Andächtige Stille herrscht in den Mauern des ehemaligen Kornhauses. Über die hölzernen Schaukästen, die an die Schreibpulte der mittelalterlichen Mönche erinnern, beugen sich die Besucher. Aufgeklappt und auf feinem Tuch gebettet liegen darin zahlreiche in Leder gebundene Bücher. Ein besonderer Schatz der nach Umbauten 2018 wiedereröffneten Humanistenbibliothek im elsässischen Sélestat (Schlettstadt) ist die Wittenberger Ausgabe von Martin Luthers Abhandlung "Von der Freiheit eines Christenmenschen" von 1520. In dem gedruckten Brief an Papst Leo X. legt der Reformator seinen neuen Glauben dar.

Mit roter Tinte hat Luther selbst handschriftliche Anmerkungen zu seinem in Latein verfassten Text an den Spaltenrand gesetzt. Daneben finden sich weitere Vermerke in Schwarz. Sie stammen von dem Philologen, Autor, Übersetzer und Herausgeber Beatus Rhenanus (1485-1547), der grammatische Fehler für eine 1521 in Basel geplante Neuausgabe korrigierte. Der gebürtige Schlettstadter Metzgersohn schenkte seiner Heimatstadt kurz von seinem Tod seine private Sammlung von Schriften und Büchern. Die wertvollen 670 Bände und seine Korrespondenz mit Gelehrten seiner Zeit in Europa bilden den Grundstock für die einzige größere Humanistenbibliothek, die vollständig erhalten ist.

Martin Luthers Brief an Papst Leo X.
Martin Luthers Anmerkungen in roter Tinte.

Neben dem Straßburger Münster und dem Isenheimer Altar von Colmar, der die Passion Christi darstellt, ist die Humanistenbibliothek in der Kleinstadt Sélestat mit ihren malerischen Fachwerkhäusern und Gässchen einer von drei großen Schätzen, die das Elsass seinen Besuchern bietet. Und doch ist das Kleinod, das die Geschichte des Humanismus und der Reformation sowie die Entwicklung des Buchdrucks um 1600 am Oberrhein zeigt, in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt. Seit 2011 ist die Bibliothek UNESCO-Weltkulturerbe.

Heute zählt die Bibliothek rund 70.000 Bücher und Handschriften. Sie umfasst auch die ehemalige Pfarrbibliothek mit ihren Beständen der im Mittelalter berühmten Lateinschule von Schlettstadt. Nach dem 1,4 Millionen Euro teuren Umbau durch den französischen Star-Architekten Rudy Ricciotti präsentiert sich die zweigeschossige "Schatzkammer der Renaissance" am Oberrhein in modernem Gewand. Neben den ausgestellten Originaldrucken von Bibeln, reformatorischen Schriften, Chroniken und mittelalterlichen Handschriften gibt es auch Touchscreens: An ihnen können die Besucher in den digitalisierten Seiten kostbarer Werke blättern

Humanistenbibliothek von ­Sélestat
Am alten Gebäude wurde 1907 ein Mosaik mit der Inschrift "Stadtbibliothek – Museum", dem Schlettstadter Wappen und dem deutschen Reichsadler angebracht.

Im klimatisierten und durch eine Glaswand abgetrennten "Tresor", dem Lesesaal, kann man unter Aufsicht gar einen Blick in berühmte Erstausgaben werfen. Die Bibliothek verwahrt eine von weltweit drei erhaltenen "Taufurkunden" Amerikas – die Kosmografie Martin Waldseemüllers von 1507. In ihr wird erstmals der Name für den neu entdeckten Erdteil vorgeschlagen. Daneben gibt es Werke von Rhenanus’ Freund, dem Humanisten Erasmus von Rotterdam, oder ein liturgisches Lesebuch aus der Merowingerzeit im 7. Jahrhundert – das älteste Buch im Elsass. Ein in der Bibliothek aufbewahrtes Druckwerk macht die 20.000-Einwohner-Stadt Sélestat nach eigenen Angaben sogar zum Geburtsort des Weihnachtsbaums: Ein Eintrag in einem Rechnungsbuch von 1521 erwähnt, dass dem Förster vier Schillinge zu bezahlen sind, damit er ab dem 21. Dezember "dem Sankt-Thomas-Tag die Bäume bewacht".

Aus der Lateinschule der Freien Reichsstadt gingen im Mittelalter zahlreiche Beamte und Gelehrte hervor. Dort wurde Latein als gemeinsame Sprache der Gelehrten unterrichtet, um die Schüler auf ein Universitätsstudium vorzubereiten. Zwischen den großen geistigen Zentren Europas in Italien und in den Niederlanden bildete der Oberrhein eine Brücke. In Basel, Straßburg und Mainz befanden sich große Buchdruckereien, deren papierne Produkte das damalige Wissen in Europa verbreiteten.

Europa ohne Grenzen

"Junge Gelehrte aus ganz Europa tauschten sich durch Briefe oder bei gegenseitigen Besuchen aus", erzählt der Bibliothekar Laurent Naas. Ihr Bildungsideal sei es gewesen, die Menschen zu aufgeklärten, freien und selbstverantwortlichen Menschen zu erziehen. Dabei besannen sich die sogenannten Humanisten, die über ein europaweites, freundschaftliches Netzwerk verbunden waren, auf die antike Kultur und ihre Sprachen – Latein, Griechisch und Hebräisch. Sie interessierten sich für Naturwissenschaften und übten Kritik an den Dogmen der Kirche und ihren Irrwegen, vor allem dem Ablasshandel.

Dabei strebten die Gelehrten zurück "ad fontes", zu den Quellen der Texte, um sie von Fehlinterpretationen der scholastischen Kleriker des Mittelalters zu reinigen. Sie übersetzten sie neu, erläuterten sie und gaben sie in enger Zusammenarbeit mit Buchdruckern neu heraus. Dabei ebneten sie der Sprachwissenschaft (Philologie) und der Textkritik den Boden.

Beatus Rhenanus (1485-1547)
Beatus Rhenanus (1485-1547) hieß eigentlich Beat Bild. Er nannte sich nach dem Herkunftsort seines Vaters, einem Schlettstadter Metzger, der aus Rheinau stammte. Rhenanus studierte in Paris und wurde zu einem bedeutenden Humanisten in der Zeit von Erasmus und Martin Luther.

Auch die Bibel wollten die Humanisten in ihrer ursprünglichen Form wiedergeben. Neue Übersetzungen des "Buchs der Bücher" in die Sprache des Volks sollten sie möglichst vielen Menschen zugänglich machen. Im frühen 16. Jahrhundert war der Buchdruck am Oberrhein "ein Motor der Reformation", weiß Naas. Auch der bis heute nur wenig bekannte Humanist Rhenanus ließ viele Werke drucken, die die neuen kirchenreformerischen Ideen Luthers und anderer Reformatoren vertraten. "Rhenanus war empfänglich für deren Gedankengut, vertrat es aber nicht selbst", macht Naas deutlich. Zwar war Rhenanus mit dem ebenfalls in Schlettstadt geborenen Straßburger Reformator Martin Bucer, dem "Erfinder der Konfirmation", eng befreundet. Doch lehnte er die Kirchenspaltung entschieden ab und sprach sich für die Einheit der Kirche aus.

Mittlerweile tritt die Humanistenbibliothek in der ehemaligen Reichsstadt Sélestat ein wenig aus dem Schatten der großen touristischen Konkurrenten in Straßburg und Colmar heraus. 40.000 Besucher wurden allein im vergangenen halben Jahr gezählt. Vor Beginn des Umbaus 2014 waren es 20.000 – pro Jahr. Die meisten Besucher kommen aus Frankreich, knapp ein Viertel aus Deutschland. Bibliothekar Naas hofft, dass dem elsässischen Humanisten Rhenanus zukünftig mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Leidvolle deutsch-französischen Geschichte

Auch aufgrund der leidvollen deutsch-französischen Geschichte hätten die Franzosen lange Zeit die "deutschen Humanisten nicht im Blick gehabt", sagt er. Vor zehn Jahren sei eine erste Doktorarbeit über den Gelehrten Rhenanus erschienen, der seine Büchersammlung an seinen Studien- und Wirkungsorten in Straßburg, Basel und Paris zusammentrug.

Doch gerade heute wären in einem auseinanderstrebenden Europa mehr Frauen und Männer vom Schlag des Schlettstadters Beatus Rhenanus nötig, sinniert Bibliothekar Laurent Naas: gebildete Menschen auf der Suche nach Wahrheit und Wissen, "in einem Europa ohne Grenzen".

INFO

DIE "BIBLIOTHÈQUE HUMANISTE" von Schlettstadt ist von Mai bis September und im Dezember geöffnet von 10 bis 12.30 Uhr sowie von 13.30 bis 18 Uhr, in den anderen Monaten von 13.30 bis 17.30 Uhr (jeweils Di. bis So.; 1 Place Docteur Maurice Kubler). Der Eintrittspreis beträgt für Erwachsene sechs, für Kinder von sieben bis 18 Jahren vier Euro. Weitere Informationen und Anmeldungen zu Führungen gibt es unter Telefon (00 33) 3 88 58 07 20. Internet: www.bibliotheque-humaniste.fr