Wer bei der zweiten großen Aufführung der Feuchtwanger Kreuzgangspiele "Sherlock Holmes" eine locker-fluffige Detektivgeschichte erwartet hat, wird eines besseren belehrt: Regisseur Lennart Matthiesens Bühnenadaption einer 1891 erstmals erschienenen Kurzgeschichte gerät zur Entwicklungsromanerzählung und zum feministischen Rachestück.

In Sir Arthur Conan Doyles 1891 erstmals erschienenen Kurzgeschichte "Ein Skandal in Böhmen" trifft Sherlock Holmes auf die ebenso kluge wie gefährliche Irene Adler (facettenreich gespielt von Kirsten Schneider), eine ehemalige Opernsängerin und Schauspielerin. Die für ihre Schönheit wie Intelligenz bekannte Dame hat einem böhmischen Adeligen den Kopf verdreht und erpresst ihn jetzt mit einem kompromittierenden Foto, das Holmes (erfrischend: Johann Anzenberger) ihm beschaffen soll. Der sich seiner Intelligenz bewusste, immer etwas eitle Detektiv jedoch entdeckt im Lauf der Handlung, dass er es mit einer ebenbürtigen Gegnerin zu tun hat – und ist fasziniert von ihr.

Weder seine Versuche, ihr bei der Hochzeitszene mit ihrem vermeintlichen Ehemann in spe und sich später als Komplize erweisenden Godfrey Norton (wandlungsfähig: Joseph Reichelt) näherzukommen noch seine Verkleidung als Pater Bennet (eine Verneigung vor der Familie des zweiten großen Stückes in Feuchtwangen, "Stolz und Vorurteil"), mit der er sich Zugang zu Adlers Wohnung und dem Versteck des Fotos erschleichen will, verfängt. Die listige Lady ist ihm immer einen Schritt voraus – er hat sie schlichtweg unterschätzt.

Verfolgungsjagd und Rigoletto

Auf Englisch: "Unestimated" – das singt bereits der rührige Dr. Watson (treu und zurückhaltend gespielt von Mario Schnitzler) auf der Freilichtbühne vor der Stiftskirche zu Beginn des Stückes. Und das ist auch das letzte Wort, das Holmes verzückt ausspricht, als er nach einer turbulenten und wendungsreichen Geschichte inklusive Verfolgungsjagd per Pferdekutsche und irrwitziger "Rigoletto"-Aufführung ein letztes Mal von Irene Adler überrascht wird, in die er sich mittlerweile verliebt hat. Ein offenes Ende, das sogar Raum für eine Fortsetzung bietet.

Auf der Bühne stehen zwölf Schauspielerinnen und Schauspieler, die in wechselnden Rollen rund 30 Figuren verkörpern. Für Matthiesen steckt viel Herz in jeder einzelnen davon – besonders in den vermeintlich kleineren Charakteren, etwa beim König von Böhmen Sigismund von Ormstein (klasse gespielt von Achim Conrad), den er als unsympathischen Autokraten gezeichnet hat. Hier soll das Stück aktuelle gesellschaftliche Fragen spiegeln. Auch für Klamauk ist freilich gesorgt, wenn beispielsweise die Kutscher mit ihren Tieren lautmalerisch zu verschmelzen scheinen.

Wie bei Aufführung des Ensembles gewohnt, werden Szenewechsel von den Schauspielerinnen und Schauspielern selbst per Hand vorangetrieben: Requisiten verwandeln sich stetig – so wird eine Stehlampe zur Straßenlaterne. London entsteht so mit einfachen Mitteln in Feuchtwangen. Dazu kommen ausgefeilte Toneinspielungen auf Stichwort, vom Türe knarzen bis zum Rap.

"Name der Rose" wurde inspiriert

Bei all dem abwechslungsreichen Geschehen kommt die Psychologie der Figuren nicht zu kurz.  Sherlock Holmes erscheint zwar der vordergründig als Inbegriff des Rationalismus, der wenig persönliches Interesse an metaphysischen oder spirituellen Fragen hat und die Vernunft zum zentralen Instrument der Welterkenntnis erhebt. Dennoch strebt er auch diesem Fall nach Themen wie Opfer, Erlösung, Gerechtigkeit und erlebt am Ende sogar eine Auferstehung. Die 56 Geschichten und vier Romane, die sein Schöpfer hinterlassen hat, können daher als Versuche gelesen werden, in einer zunehmend entzauberten Welt dennoch Wahrheit, Ordnung und Erlösung zu finden.

Inspiriert hat das ungleiche Paar Sherlock Holmes und Dr. Watson übrigens keinen Geringeren als den italienischen Schriftsteller Umberto Eco zu seinem berühmten Klosterkrimi "Der Name der Rose". Dort heißt der Detektiv William "von Baskerville", in Anlehnung an Sir Hugo Baskerville, eine Figur in dem Sherlock-Holmes-Roman "Der Hund von Baskerville". Und Dr. Watson wird zum Adlatus Adson von Melk, eine Anspielung auf den Namen Watson.

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