Fasching, Taufe, erster Kuss, Hochzeit und feierliches Abschiednehmen: Das Wirtshaus begleitete Menschen in Bayern jahrhundertelang durchs Leben. Doch seit mehr als 50 Jahren siecht das Wirtshaus, dieser einstige bayerische Identifikationsort, dahin. Für Richard Loibl, den Direktor des Hauses der Bayerischen Geschichte, ist die Krise in Bayern "so schmerzlich wie nirgends sonst spürbar". Am Samstag (30. April) feierte die Ausstellung "Wirtshaussterben? Wirtshausleben!" im Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg Eröffnung.
Urbayerischer Sozial- und Kulturkosmos
Die Ausstellung verschließt die Augen nicht vor der Problematik, aber vor allem macht sie Lust, einen Blick in diesen urbayerischen Sozial- und Kulturkosmos zu werfen: Für kurze Zeit lebt die Vitalität dieses einstigen Kommunikationszentrum der Menschen wieder auf und macht sie mit allen Sinnen erfahrbar.
Ob Tanzsaal, Kegelbahn, Männergesangsverein und Schafkopfrunde, ob Schlachtschüssel, Kesselfleisch oder selbstgebrauter Gerstensaft: Bayerische Schank- und Speisewirtschaften waren einst eine Attraktion und der Mittelpunkt des Dorflebens.
Gleich im Eingangsbereich der Ausstellung "explodiert" es: Für Museumsgestalter Friedrich Pürstinger erlebt das bayerische Wirtshaus zurzeit einen "Urknall". Prompt baumeln wie bei einer kosmischen Explosion 400 bunt schillernde Objekte von der Museumsdecke: Schinkenpresse, Leberkas-Form, Gewürzwaage, Küchentopf und Kartoffelstampfer, Fußballpokal, Schafkopfkarten und Musikinstrumente. Aber auch Leitzordner und Gesetzbücher hängen dort - wegen der Bürokratie, die manchen Wirt zum Aufgeben gebracht hat.
Neuerfindung der bayerischen Gemütlichkeit
Beim Gang durch die Kabinette taucht der Besucher in die Geschichte der bayerischen Gasthäuser ein. Schon zur Römerzeit boten Tavernen Unterkunft für Soldaten und Reisende. Im Mittelalter vervielfachte sich das Angebot an Wein- und Bierschenken. Dann ein erneuter Urknall im 19. Jahrhundert: Um 1870 wirkt der Architekt Gabriel von Seidl federführend an der Neuerfindung der bayerischen Gemütlichkeit mit.
Bierpaläste für mehrere tausend Gäste gestaltet er im "Heimatstil". Eine Holzvertäfelung und Holzdecke gehörten dazu wie alpenländische Elemente. Der größte Bierpalast aber wurde nie gebaut, sondern ist als 3D-Druck im Museum zu sehen.
Gemütlichkeit wurde Exportschlager
Bei der Weltausstellung 1893 in Chicago wurde die Gemütlichkeit zum Exportschlager. 28 Millionen sahen die Ausstellung. Mit Trachten, Schuhplattler, Musik, Biergärten und Holzkulissen im alpenländischen Stil herrschte in den Vergnügungsparks globale Jahrmarkt-Stimmung. "Der Rubel der Bierbrauer rollte", erläuterte Loibl. Vierspänner mit Bierkutscher ließ man per Schiff nach New York transportieren.
Zunächst war der Würzburger Hofbräu Marktführer in den USA, erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde er vom Münchner Löwenbräu überflügelt. Loibl vermutet:
"Der Kanon bayerischer Wirtshauskultur wurde womöglich gar nicht in München, sondern im Ausland zusammengestellt."
Stilbildendes It-Girl und Werbeikone der Bierindustrie wurde die "Schützenlisl". Der Maler Friedrich von Kaulbach soll so begeistert von der Hilfskellnerin Coletta Möritz gewesen sein, dass er die Porträtzeichnung noch an Ort und Stelle anfertigte. Er nahm sie als Vorlage für das Kolossalgemälde, das beim Bundesschießen 1881 auf der Bierburg des Münchner Kindl Bräu von der Fassade prangte.
Originale, Wirte, Politiker und Revolutionäre kommen zu Wort
Zu Wort kommen auch Originale wie der Stimmungsgarant Georg Lang, der Wirte-Napoleon Richard Süßmeier und der Schmalzlerfranz. Aber auch Politiker wie Kurt Eisner und der Revolutionär Georg Elser, dem 1939 mit seiner Bombe im Münchner Bürgerbräukeller fast ein Attentat auf Hitler geglückt wäre.
Essen und Trinken, Spielen und Singen, Rauchen und Schnupfa, Politisieren und Derblecken: Die Ausstellung bereist den gesamten Wirtshauskosmos, in dem auch der Humor eine besondere Rolle spielt. "Wirtschaften waren eben auch eine Art Theater", also Kabarett und Kesselfleisch, sagte Loibl.
In einer Hälfte des Donausaales wird in acht Abteilungen durch die Geschichte bayerischer Wirtshauskultur geführt. Die andere Hälfte wird zum Kinosaal. Michael Bauer hat für die Ausstellung einen etwa 25-minütigen Film produziert. Er führt darin durch bayerische Traditionswirtshäuser - solche die aufgegeben wurden, aber auch solche, die einen Weg gefunden haben, mit neuen Konzepten zu bestehen. So wie in Triftern bei Pfarrkirchen, wo der Künstler Bernhard Stöcker die "Alte Post" mit einem Mix aus Kino, Film, Konzerten und Bildnerkunst bespielt. Von den ehedem 13 Gasthäusern haben im Ort nur drei überlebt.
Wirtshaus gehört zur DNA der Bayern
Wie sehr das Wirtshaus zur DNA der Bayern gehört, beschreibt Kabarettist Gerhard Polt. Im Film philosophiert er über das Herz der Wirtshauskultur:
"Wer keine Stammtisch-Erfahrungen hat, der hat vom Leben fast nichts gelernt. Der wohnt - leider Gottes - in anderen Dimensionen."
Das Wirtshaussterben ist ein kompliziertes Geflecht aus mehreren Störfaktoren, sagte Projektleiter Michael Nadler. So erreichte die Zahl der Schankwirte im Freistaat im Jahr 1960 mit 23.000 ihren Höhepunkt. Dann aber ab 1970 traf die Konkurrenz von Fernseher, Flaschenbier, Vereinsheimen mit Vollküchen und die Verschärfung der Promillegrenzen vor allem die Wirte auf dem Land hart.
Im Jahr 2006 waren es gerade noch 6.800 Speise- und Schankwirtschaften in Bayern. Innerhalb der letzten 15 Jahre sei die Zahl bei den Schankwirten nochmals um beinahe ein Drittel gesunken auf 3.700 im Jahr 2020. Niederbayern sei am härtesten vom Wirtshaussterben betroffen.