Eine einfache Küche, darin ein kleiner Junge und seine Oma: Er sitzt auf einem kleinen grünen Plastikstühlchen am Tisch, vor ihm ein Teller mit Micky-Maus-Motiv. Sie kocht und hantiert, erzählt von früher und singt die Lieder ihrer Jugend.

Großeltern sind, könnte man sagen, Zeitzeugen, und so oder so ähnlich wie in der Küche werden Enkel zu Zeugen dieser Zeitzeugen. In unserem Fall wurde der kleine Junge 1980 geboren, er heißt Yoéd Sorek. Weil der kleine Plastikstuhl in einer Küche in Jerusalem stand, war die Oma keine Oma, sondern Yoéds "Savta", also doch eine Oma, aber eine israelische.

Lebenslust und Todesangst

Sima Skurkovitz, so hieß Yoéds Savta, und sie war – wie viele aus der Gründergeneration Israels – eine Überlebende. Als Sima 1924 in Wilna geboren wurde, war die litauische Hauptstadt noch ein blühendes "Jeruschalayim de Lita", ein Jerusalem des Nordens. Hier, in "Vilne", hatte sich das Jiddische zu einer eigenen Kultursprache emanzipiert, war ein Zentrum der jüdischen Aufklärung (Haskala).

Sima ist 2015 gestorben, mit 91 Jahren. Ihre Geschichte hat sie in einer Autobiografie aufgeschrieben. Yoéd ist inzwischen kein kleiner Junge mehr, sondern ein begabter, preisgekrönter Tenor. Seit einigen Jahren lebt er in Augsburg. Seine Großmutter Sima, ihre Überlebensgeschichte und ihre Lieder klingen in seinem Leben weiter – oder vielmehr: Yoéd lässt ihre jiddischen Lieder weiterklingen, und damit lebt ein Stück von Sima und der Welt ihrer Jugend weiter, die das nationalsozialistische Deutschland im Holocaust für immer vernichtet hat. Das US-Holocaust-Memorial-Museum der Vereinigten Staaten hat in seiner Sammlung ein mehrstündiges, auf Hebräisch geführtes Interview mit ihr, in dem man Sima Skurkovitz auch singen hören kann.

"Bulbes" sind "Kartofln"

"Simas Lieder" spielt Yoéd Sorek – begleitet vom großartigen Akkordeonisten Konstantin Ischenko oder von der nicht weniger begabten Pianistin Susanna Klovsky – auf Bühnen von Augsburg bis Amsterdam, aber auch in Schulen oder Kirchengemeinden. Mit Simas Liedern zeichnet Sorek den Weg der untergegangenen jüdischen Kultur in Osteuropa nach: das unbeschwerte Leben eines verliebten jungen Mädchens, die Lebenslust und die Schönheit von "Vilne", die dräuenden Wolken, den deutschen Einmarsch, die Angst, die Sklavenarbeit und den tausendfachen Tod.

Bei einem der Massaker von Ponar (Paneriai) wurden Simas Vater Leib, ihr Bruder und ihre Schwester ermordet: "’s firn vegn tsu Ponar tsu / ’s firt keyn veg tsurik / iz der tate vu farshvundn / un mit im dos glik", heißt es in einem der Lieder ("Shtiler, shtiler"). Aber es waren die Musik, die jiddischen Lieder, die in Simas Leben zu allen Zeiten begleitet haben - auch in den finstersten. Trotzige Hoffnung und Überlebenswille werden spürbar in dem Lied "Minutn fun bitochn" (Minuten der Zuversicht), das Mordechai Gebirtig (1877-1942) im Jahr 1940 im Krakauer Ghetto schrieb.

Yoéd Sorek muss seinem Publikum nur wenige hebräische oder polnische Wörter erklären: Dass der "Tate" der Vater ist, oder "Bulbes" zum Beispiel eines von vielen zärtlichen jiddischen Wörtern für "Kartofln". Geschrieben sieht Jiddisch aus wie eine Fremdsprache, aber in die gesprochene Sprache hören sich deutsche Ohren schnell hinein. Zu mehr als 70 Prozent ist Jiddisch ein Dialekt der deutschen Sprache.

 

Yoed Sorek (Tenor) mit Susanna Klovsky (Klavier) - Simas Lieder
Simas Lieder: Yoed Sorek (Tenor) mit Susanna Klovsky (Klavier).

"Es wird ihnen gefallen"

Bevor er 2012 nach Deutschland ging, in das Land der Täter, hat Yoéd seine Oma um Erlaubnis gefragt. Die antwortete: "Du bist jetzt die dritte Generation, die sind jetzt die dritte Generation. Es ist nicht ihre Schuld. Sing jiddisch. Es wird ihnen gefallen. Und erzähl’ ihnen von deiner Savta!"

Das tut Yoéd. Denn Simas Geschichte, die sie in ihrer Autobiografie aufgeschrieben hat, ist eine Überlebensgeschichte. Eine, die mit und durch die Musik geschrieben wurde, und Yoed schreibt sie nun weiter. Seine Herzenswärme und sein Humor springen über – ob auf der großen Bühne oder vor Schülern. Der Wandlungsfähigkeit seiner glasklaren Stimme entspricht auch eine körperliche Wandlungsfähigkeit: Es ist mal zärtliches, mal leidenschaftliches Musiktheater, wenn Yoéd Sorek die Lieder seiner Großmutter singt und spielt.

"Zeuge Gottes"

Alle hebräischen Buchstaben können auch als Zahlen gelesen werden. Sein Name ergibt nach der kabbalistischen Gematrie die Glückszahl 90. Und: Yoéd bedeutet "Zeuge Gottes" oder "Gott ist Zeuge". Sorek empfindet das durchaus als Verpflichtung. Auch wenn er nicht aus einer sonderlich religiösen Familie kommt, singt er immer wieder als Vorsänger in Gottesdiensten. Es gebe viele Militärs in seiner Familie, aber selbst sei er kein sehr talentierter Soldat gewesen, sagt Sorek. Einmal habe er bei einer Übung beinahe seinen Offizier erschossen. Aber er weiß, dass es für Israel überlebenswichtig ist, sich schützen zu können.

Yoéd Sorek hat eine Überzeugung, die ihn antreibt: "Schalom ist möglich" – Frieden und Versöhnung sind nicht nur Hoffnungen, sie können Wirklichkeit werden. Er selbst ist dafür nun selbst "Zeitzeuge". Als Jude der dritten Generation nach der Schoah fühle er sich frei, sagt Yoéd, der gerne in Bayern, gerne in Augsburg lebt.

Vor 70 Jahren gab der bald weltberühmte Komponist, Dirigent und Pianist Leonard Bernstein (1918-1990) in Landsberg am Lech eines seiner ersten Konzerte in Deutschland: Wenige Tage vor der Staatsgründung Israels spielte Bernstein zusammen mit 17 jüdischen Musikern, die den Holocaust überlebt hatten, vor Tausenden weiterer Überlebender. Als am 10. Mai das historische Konzert in Landsberg wiederholt wurde, war auch Yoéd Sorek als Tenor dabei. Und mit ihm eine Überlebende: seine "Savta" Sima.

 

CD UND TERMINE

"Sima's Songs": Sein Debütalbum hat der israelische Tenor Yoéd Sorek seiner Großmutter Sima Skurkovitz (1924-2015) gewidmet, einer litauischen Holocaust-Überlebenden. Simas Lieder waren ihre Kraftquelle. Ihren Enkelsohn Yoéd hat sie ermutigt, in ihre Fußstapfen zu treten. Mit ihm bereitete sie dieses Album mit Liedern aus dem Herzen der jiddischen Kultur vor.

Mit einem Programm jiddischer Lieder tritt Yoéd Sorek zusammen mit dem israelischen Pianisten Guy Mintus am 17. Mai  in München (Bar Gabányi) und am 19. Mai in Augsburg (Kulturhaus Kresslesmühle) auf. Kontakt: www.yoedsorek.com