Wenn Margot Friedländer bei öffentlichen Veranstaltungen zu sprechen begann und von ihrem Leben erzählte, vergaßen die Menschen um sie ihr hohes Alter sofort. Spielend zog sie ihre Zuhörerschaft in den Bann. Die Berliner Jüdin Margot Friedländer sprach bis zuletzt mit Jugendlichen über den Holocaust und warnte vor Hass und Antisemitismus. Jetzt ist sie mit 103 Jahren in ihrer Heimatstadt gestorben.
Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, würdigte Friedländer als "herausragende Persönlichkeit und eine der bedeutendsten Zeitzeuginnen des Holocaust".
"Als eine der letzten Zeitzeuginnen, die die nationalsozialistische Terrorherrschaft als Jugendliche und junge Erwachsene erlebte, war Margot Friedländers Stimme für die Erinnerung von unschätzbarem Wert", teilte Knobloch mit. "Dass sie in hohem Alter in ihre Geburtsstadt Berlin zurückkehrte und sich unermüdlich gegen das Vergessen einsetzte, war ein Geschenk, das wir nicht hoch genug schätzen können." Mit ihrem Tod sei die Zeit ohne Zeitzeugen ein Stück näher gerückt. Gerade jetzt aber sei ein tätiges Erinnern besonders wichtig.
Margot Friedländer kam am 5. November 1921 zur Welt. Die Eltern und ihr Bruder wurden Opfer der Schoah, sie selbst versteckte sich über viele Monate im Untergrund in Berlin, überlebte das Konzentrationslager Theresienstadt.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zog Margot Friedländer mit ihrem Mann nach New York. Erst 2003 besuchte sie erstmals wieder ihre Geburtsstadt, 2010 kehrte sie endgültig nach Berlin zurück. Sie sagte über ihre frühe Kindheit: "Ich bin so froh, in einer so schönen Stadt geboren zu sein, ich war so glücklich hier zu sein, ich konnte atmen, es war mein Berlin."
Geboren wurde sie als Margot Bendheim in Berlin-Kreuzberg und wuchs in einer wohlhabenden jüdischen Familie auf. Ihr Vater Artur Bendheim besaß ein Geschäft im Modeviertel am Hausvogteiplatz. Ab 1933 emigrierten nach und nach viele Verwandte und Freunde. Margot Friedländers Vater, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, entschloss sich erst 1939, in letzter Minute, nach Belgien zu fliehen. 1942 wurde er in Auschwitz ermordet.
Nach ihrer Schulzeit besuchte Margot eine Modezeichenschule. Als sich die Eltern 1937 scheiden ließen, begann sie eine Schneiderlehre. Mit der Mutter und ihrem jüngeren Bruder zog Margot zunächst in eine Pension am Ludwigkirchplatz in Berlin-Wilmersdorf, ab 1939 lebte die Familie bei den Großeltern mütterlicherseits.
Margot Friedländer und der Holocaust
1941 wurden sie in eine sogenannte "Judenwohnung" in der Skalitzer Straße eingewiesen. Die beiden Frauen waren nicht zu Hause, als Ende Januar 1943 die Gestapo klingelte und den Bruder abholte. Daraufhin stellte sich die Mutter freiwillig der Polizei, sie wollte den Sohn nicht allein gehen lassen. Beide wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Kurz zuvor hatte die Mutter einer Nachbarin eine Handtasche mit einer Bernsteinkette und einem Notizbuch für Margot übergeben. Ihre Botschaft an die Tochter: Versuche, dich zu retten. Jahrzehnte später erinnert sich Margot Friedländer: "Ich könnte mir vorstellen, dass meine Mutter dachte, ich sei stark genug. Ich war vielleicht sogar als junges Mädchen draufgängerisch. Ich kann mir vorstellen, dass meine Mutter gehofft und gebetet hat, dass ich es schaffe."
Sie war 21 Jahre alt, riss sich den Judenstern vom Mantel, färbte sich die Haare rot, ließ sich sogar die Nase operieren und tauchte unter. 16 Menschen, zählt sie, hätten ihr geholfen, immer wieder neue Verstecke zu finden.
"Sie haben immer versucht, mir ein Bett zu geben, mir ein Essen zu geben. Man brauchte nicht mit den Menschen politisch über Bücher, Musik sprechen. Man hat gekämpft, um zu überleben - diese Menschen auch."
15 Monate lang lebte sie im Untergrund mit ständig wechselnden Aufenthaltsorten. Die Kette und das Notizbuch von ihrer Mutter behielt sie immer bei sich. Auch noch, als sie im April 1944 bei einer Ausweiskontrolle auf dem Kurfürstendamm sogenannten jüdischen "Greifern" ins Netz ging und ins KZ Theresienstadt deportiert wurde. Hier traf sie ihren späteren Mann, Adolf Friedländer, den sie bereits aus Berlin kannte. Beide überlebten und ließen sich im Frühsommer 1945, noch im Lager, von einem Rabbi trauen. 1946 emigrierte das Paar in die USA. Adolf Friedländer wollte nie wieder deutschen Boden betreten.
Margot Friedländer und ihr Umgang mit dem Nationalsozialismus
Nach dem Tod ihres Mannes besuchte Margot Friedländer einen Kurs im "Memoirenschreiben". Unter dem Titel "Versuche, dein Leben zu machen" veröffentlichte sie ihre Autobiografie, die 2008 auch auf Deutsch erschien. 2010 entschied sie sich, nach Berlin zurückzuziehen.
Margot Friedländer erhielt viele Preise und war Ehrenbürgerin Berlins. Seit 2014 trägt ein Preis ihren Namen und wird an Jugendliche vergeben, die sich mit dem Holocaust auseinandersetzen, gegen Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung engagieren.
Am 8. Mai 2025, dem Tag des Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom Nationalsozialismus, war die 103-jährige Friedländer in das Rote Rathaus eingeladen. Dort las sie aus ihrem Buch - und appellierte an die Gäste: "Bitte seid Menschen". Nun ist sie am 9. Mai 2025 gestorben.
Filmtipps: Margot Friedländer in der ZDF-Mediathek
„Ich bin! Margot Friedländer“, Dokudrama, Regie: Raymond Ley, Buch: Raymond Ley, Hannah Ley, Kamera: Martin L. Ludwig, Dirk Heuer, Produktion: Ufa Documentary In der ZDF-Mediathek.
Das Dokudrama widmet sich der Lebensgeschichte der 101-jährigen Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer. Ihre persönlichen Schilderungen bilden den Leitfaden des Films. Link zum Film
Margot Friedländer: Acht Gespräche und ein Ausflug.
Dokumentation in der ZDF-Mediathek - Link zum Film
Würdigung und Begräbnis von Margot Friedländer
Im Bundestag soll zu Beginn der kommenden Sitzungswoche für die Abgeordneten ein Kondolenzbuch ausgelegt werden, wie Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) ankündigte. "Mit dieser Geste bezeugt der Deutsche Bundestag seinen Respekt und seine Dankbarkeit gegenüber Margot Friedländer", erklärte Klöckner. Auch im Roten Rathaus, dem Sitz der Berliner Senatskanzlei, soll ein Kondolenzbuch ausgelegt werden.
Zahlreiche Politikerinnen und Politiker und Vertreter aus Gesellschaft und Religionsgemeinschaften würdigten die Persönlichkeit und den unermüdlichen Einsatz Friedländers. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärte, sie habe "jeden, der ihr begegnete, mit ihrer Wärme, ihrer Zugewandtheit, ihrer ungeheuren Kraft beeindruckt". Ihre tiefe Menschlichkeit habe ihn im Innersten berührt.
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) nannte die Verstorbene "eine der stärksten Stimmen unserer Zeit", die sich "für ein friedliches Miteinander, gegen Antisemitismus und Vergessen" starkgemacht habe. Sein Amtsvorgänger Olaf Scholz (SPD) erklärte, Friedländers Tod berühre ihn sehr. "Wir verlieren eine starke Frau, eine Kämpferin für Menschlichkeit", betonte Scholz. Alt-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte der "Bild"-Zeitung: "Wir können gar nicht dankbar genug sein, dass Margot Friedländer die Kraft fand, von ihrer Leidens- und Lebensgeschichte zu erzählen."
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, betonte, Margot Friedländer habe "den Glauben an eine gerechte, friedliche Welt niemals aufgegeben. Ehren wir sie, indem wir diesen Glauben weitertragen." Der evangelische Berliner Bischof Christian Stäblein erklärte, gerade in einer Zeit, "in der Antisemitismus wieder wächst und demokratische Grundwerte infrage gestellt werden, war ihre Stimme ein Licht". Der katholische Berliner Erzbischof Heiner Koch betonte: "Ihr Lebenszeugnis, Ihre Bereitschaft zur Versöhnung werden fehlen."
Der Geschäftsführer des Internationalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, erklärte, mit ihrer "leisen und klaren Botschaft der Erinnerung und der Menschenliebe, ihrer Würde und ihrer Präsenz" habe Margot Friedländer viele Menschen berührt. Zugleich habe sie damit "immer wieder die Dunkelheit und die Dummheit des rechtsextremen und antisemitischen Hasses" überstrahlt.
Friedländer soll in Berlin bestattet werden.
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