Ein Kind stapelt Legosteine aufeinander - mit diesem Bild beschreibt der Medienexperte Ken Doctor die heutige Verlagsbranche. "Wir bewegen uns vom Chaos zur Ordnung und von der Ordnung zum Chaos. Die Demokratien sind auf dem Rückzug, und Medienhäuser stehen in der Kritik", eröffnet der Speaker aus den USA das Newscamp in Augsburg mit mehr als 400 Teilnehmern aus der Verlags- und Medienbranche.
Ken Doctor betreibt die Seite Newsonomics und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Veränderungen im Journalismus. Er zeichnet ein düsteres Bild der aktuellen Medienwelt. Die beiden Plattformen Google und Facebook ziehen Daten auf Schritt und Tritt und verdienen ihr Geld mit einer Ware, die sie eigentlich gar nicht richtig kennen: "Diese Plattformen sind keine Medienhäuser, sondern Anzeigenunternehmen", betont Ken Doctor. Das werde daran deutlich, dass 89 Prozent der Zuwächse im digitalen Werbemarkt bei Google und Facebook verblieben. Dass die größten Veranstaltungen zum Thema Medien & Journalismus von diesen Internetkonzernen gesponsert werden (übrigens auch das Newscamp in Augsburg), verstärke diese Abhängigkeit nur weiter.
Ken Doctor: Medienhäuser müssen die Kuh melken oder wachsen
Gleichwohl gibt sich Ken Doctor auch optimistisch: Jüngste Studien hätten ergeben, dass in den USA das Vertrauen der Nutzer in die Medien steige, während das Vertrauen in Plattformen wie Facebook und Co. sinke.
Welche Optionen bieten sich also heute für Medienhäuser? "Wir können die Kuh melken – oder wachsen", sagt Ken Doctor. Die Kuh melken – damit meint der Experte Abomodelle jedweder Art, allerdings mit der Gefahr, nur kurzfristige Erlöse zu erzielen.
Verlagshäuser bieten in ihren Online-Abonnements weniger Inhalte für einen höheren Preis. Andere steigern ihre Effizienz, indem sie Inhalte bündeln. Jeff Bezos investiert in Journalisten und Technologie. Die New York Times setzt auf eine Analyse der Kundenstruktur und auf zielgenaue Kanäle. Außerdem gibt es viele kleinere Firmen, die mit guten Beispielen auf einem spezialisierten oder lokalen Markt ihre Kunden gewinnen und halten.
Kundenanalyse bindet Leser an das Produkt
Als besonders wichtig erachtet Ken Doctor die Kundenanalyse: "Wenn ihr glaubt, Eure Kunden besser zu kennen als Facebook und Google, dann beweist das in eurem Produkt." Etwa 70 Prozent des Umsatzes der meisten Nachrichtenprodukte stamme in der Regel nur von zehn bis fünfzehn Prozent der Kunden. "Diese Kunden müssen wir extrem gut kennen", betonte Doctor.
Weitere 25 Prozent der Erlöse flössen über Anzeigengeschäfte an das Unternehmen, die restlichen fünf Prozent über Events und andere Produkte. "Meist fehlt es innerhalb des Produktes aber an richtigen Inhalten und Mehrwert für den Kunden", sagt Doctor. Medienunternehmen müssten die täglichen Gewohnheiten, Vorlieben und Wünsche genau kennen, um ihre journalistischen Angebote darauf abzustimmen.
Gerold Riemann: Innovation an der Schmerzgrenze
"Füge dir selbst Schmerzen zu, oder es tut jemand anderes": Mit diesem Statement beschreibt Geschäftsführer Gerold Riedmann die Strategie des österreichischen Medienhauses Russmedia. Was passiert, wenn der Online-Vertrieb alle Printabonnenten anruft und die Leser für ein Online-Angebot abwirbt? Welche digitale Innovation muss geschehen, um das Erbe des Print-Zeitalters fortzuführen? Nach Riedmann geht es bei der Digitalisierung vor allem darum, sich zu diversifizieren und zu wachsen.
Am Beispiel der Vorarlberger Nachrichten erklärt Riedmann, wie diese Strategie aufgehen kann: In der Region werden nach eigenen Aussagen 95 Prozent aller Vorarlberger erreicht – entweder mit Online-Angeboten oder der klassischen Printzeitung. Kleine Teams, offene Sitzungen, Mitarbeiternewsletter, hauseigene Weiterbildungsangebote bilden den Grundstock für Veränderungen innerhalb der Redaktionen, Investment in Startups die Stütze außerhalb des Verlagshauses, erklärt Riedmann.
Warum nicht die Leser belohnen?
Außerdem investiert der Medienkonzern regelmäßig in die Entwicklung neuer Produkte. Dazu gehört ein Belohnungstool, mit dem die Kunden auf der Webseite Punkte sammeln können. Für jedes Rätsel, jede Mitmachaktion und jeden Klick gibt es Punkte. "Damit erhöht sich das Engagement der Nutzer", sagt Riedmann. Das Belohnungssystem soll in den nächsten Monaten ausgerollt werden und die Bindung der Leser an das Online-Angebot noch weiter erhöhen.
Helje Solberg: Online-Videos werden zum Alltag
Auf Videos setzt das norwegische Medienhaus VGTV – und zwar ausschließlich im Netz. "Das Online-Fernsehen steckt noch in den Kinderschuhen", findet Geschäftsführerin Helje Solberg. Neben aktuellen Berichten produziert VGTV inzwischen Dokumentarfilme für Streamingdienste oder Kinos, so etwa ein Porträt des Schach-Genies Magnus Carlsen.
Für die Zielgruppe der Schüler und Jugendlichen nutzen die Redaktionen von VG auch Snapchat. "Wer behauptet, Kinder und Jugendlichen hätten kein Interesse an Nachrichten, irrt sich", sagt Solberg. Insbesondere bei 13- bis 16-Jährigen gebe es eine hohe Interaktionsrate bei nachrichtlichen Formaten. Eine Dokumentation über ein 14-jähriges Kind, das Selbstmord beging, weil es in der Schule gemobbt wurde, erreichte mehr als 1,4 Millionen Leser.
Personalisierung sorgt für Bindung
Besonders gut kommen personalisierte Formate an, die von kleinen unabhängigen Teams produziert und verbreitet werden. Die Entertainment-Sendung von Harm & Hegset gilt in Norwegen als Hype. "Die Show ist authentisch, persönlich und kopiert nicht die großen TV-Sendungen, deshalb kommt sie gut an", erklärt Solberg. Dennoch müsse noch viel geschehen für ein gutes Online-Fernsehen.
Auch für die Washington Post sind Videos ein wichtiger Geschäftsbereich. Mit einem Team von 70 Redakteuren und Producern werden aktuelle Nachrichten produziert ebenso wie Dokumentationen oder Shows, erzählt Micah Gelmann. Die Videos werden über alle Kanäle verbreitet – Online, über Apps, als Amazon-Video oder Apple News. "Es geht darum, die richtige Person auf die richtige Plattform zu setzen", sagt Gelmann.
Die Redaktion setzt auf Talente und besondere Themen. So gibt es eine Video-Kolumnistin, die eine Wissenschaftssendung für Kinder produziert ebenso wie Politikformate wie mit der Reporterin Libby Casey.
Popstars der Medienbranche
Das Newscamp versteht sich als Netzwerk für die Medienbranche. Tatsächlich kommt eine so hochkarätige Veranstaltung mit professioneller Bühnentechnik (die Speaker stehen, in Kunstnebel eingehüllt, wie Popstars auf einer kreisrunden Bühne), exquisitem Catering und einer schicken Abendveranstaltung vermutlich nur mit zahlungskräftigen Sponsoren zustande. Diese bekommen im Programm dafür viel Platz eingeräumt – angefangen von Facebook, dessen Europamanager Guido Bülow sich vor allem darum bemüht, zu zeigen, wie das Unternehmen mit Verlagen zusammenarbeitet, bis hin zu Google, Canoo oder Taboola.
Hervorragend ist die Veranstaltung immer dann, wenn Visionäre auf die Bühne treten – wie Eingangs Ken Doctor und am zweiten Tag der charismatische 71-jährige Designer Mario Garcia, der für seinen Vortrag über innovatives Storytelling den größten Applaus der gesamten Tagung bekommt - (Hier geht es zu den wichtigsten Tipps für gutes Storytelling) Gut sind auch die Workshops, in denen Ideen und Geschäftsmodelle vorgestellt werden – und offen über Probleme und Lerneffekte diskutiert wird.
Das Newscamp zählt eigenen Angaben zufolge zu den führenden Medienkongressen in Deutschland. 50 Redner aus den USA und Europa kommen in das Kongresshaus, um an zwei Tagen über Digitalisierung und Medienwandel zu sprechen. Schade nur, dass die Speakerliste ebenso wie die Teilnehmerstruktur auffällig männlich ist.
Zur Ethik der Plattformen
Im letzten Vortrag am Ende der Tagung schlägt der ehemalige Google-Mitarbeiter Joe Toscano nachdenkliche Töne an. In seinem empathischen Vortrag für "good news" appelliert er an Medienmacher, auch die Kehrtseite des Medienwandels zu betrachten. Fakenews, Blasen und Künstliche Intelligenz seien beeindruckend, aber eben auch gruselig in Bezug auf die Gefahren, die damit entstünden. Als Beispiel dafür zeigt er ein kurzes Video des ehemaligen Präsidenten Obama, dem mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz neue Worte in den Mund gelegt werden können.
Toscano: Rückkehr zur realen Welt ist nötig
Toscano hat Google den Rücken gekehrt, weil er die Welt verbessern will. "Momentan läuft alles nach dem Prinzip: Mehr Aufmerksamkeit erzeugt mehr Daten erzeugt mehr Geld. Aber dieses System müssen wir durchbrechen", findet der Computerexperte. Und dann rattert er eine ganze Liste mit Verbesserungsvorschlägen herunter: So müsse die Gesellschaft einen Wert für Aufmerksamkeit definieren.
An die Suchmaschinen und Plattformen gerichtet, fordert Toscano bessere Kontrollen: "Wir benötigen Erste-Hilfe-Systeme, Sicherheitsmenschen, Müllmänner und kritische Begleiter im Netz" – nach einem ähnlichen System, wie sich dies schon in der realen Welt etabliert habe. "Wir müssen zurück in die Realität gehen, um das System wieder sicher zu machen", sagt Toscano. Google habe dies ebenfalls erkannt: Die Authentifizierung eines Kunden erfolgt über die Briefpost. Ganz analog.
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