Grigoriy Zozulya hat noch lebhafte Erinnerungen an den Nationalsozialismus. Als Kind verbrachte der Holocaust-Überlebende aus der Ukraine fast drei Jahre gefangen in einem jüdischen Ghetto. Damals erfuhr Zozulya, wie das ist, wenn kein Mensch einem hilft. "Als ich 1993 nach Deutschland kam, war es mir deshalb ein großes Anliegen, anderen zu helfen", erzählt der 82-Jährige, der vor 25 Jahren begonnen hatte, eine Bikkur-Cholim-Gruppe in der israelitischen Kultusgemeinde Würzburg aufzubauen.

Bikkur-Cholim-Gruppen machen in jüdischen Gemeinden etwa das, was christliche Nachbarschaftshelfer tun: Sie gehen zu Senioren nach Hause oder ins Heim, reden mit ihnen, hören sich ihre Sorgen und Nöte an. "Der Unterschied liegt in der Sprache", erklärt Grigoriy Zozulya. Jüdische Kontingentflüchtlinge sprechen oft nur schlecht Deutsch, haben die Sprache nie gelernt. "Kommen sie in ein Pflegeheim, wo niemand Russisch spricht und sie selbst sich kaum auf Deutsch verständigen können, kann das ganz schrecklich sein", sagt der gelernte Elektroingenieur. Vor allem für diese von Isolation bedrohten Senioren ist Bikkur Cholim essenziell.

Bikkur-Cholim-Dienst in Würzburg mit sieben Ehrenamtlichen

Der Bikkur-Cholim-Dienst bedeutet für Grigoriy Zozulya nicht, Freizeit zu opfern. Dem aus Odessa stammenden Juden ist es vielmehr ein Herzensanliegen, auf diese Weise Solidarität zu leben. Zwölf Senioren besucht Zozulya im Moment. Darüber hinaus ist er als Einsatzleiter der Bikkur-Cholim-Gruppe in der jüdischen Gemeinde Würzburg engagiert. Sieben Ehrenamtliche, alle über 65, machen bei dem Besuchsdienst mit. 30 Senioren erhalten derzeit regelmäßig Besuch. "Der Bedarf steigt", sagt Erika Frank vom Sozialdienst der jüdischen Gemeinde, die eng mit der Bikkur-Cholim-Gruppe kooperiert. Nahezu jedes siebte der fast 1.000 Gemeindemitglieder ist über 65 Jahre alt.

Wie gut das tut, bei einer Tasse Kaffee mit jemandem zu plaudern, wenn man selbst kaum noch das Haus verlassen kann, schildert die 86-jährige Rosa Gabovich. Sie wird seit eineinhalb Jahren von Bikkur-Cholim-Mitglied Elena Libenson besucht. Früher war Gabovich selbst aktiv in der Gemeinde. Das geht nun nicht mehr, weil sie massive Probleme mit der Bandscheibe hat. Nur mit Mühe bewegt sich die aus Kiew stammende Jüdin in ihrer Wohnung fort. Die ist schön, hat jedoch einen gravierenden Nachteil: Sie befindet sich im dritten Stock. Einen Aufzug gibt es nicht. Manchmal fühlt sich Gabovich in ihren vier Wänden regelrecht gefangen. Die Treppen schafft sie kaum mehr.

Wie gerne wäre sie noch mit von der Partie, wenn im Gemeindezentrum gefeiert wird. "In den letzten eineinhalb Jahren habe ich es nur drei Mal in die Gemeinde geschafft", erzählt Gabovich. Elena Libenson, 65 Jahre alt, aus Moskau stammend, Stenografie-Lehrerin und zuletzt als Altenpflegehelferin in einem Würzburger Pflegeheim tätig, entschädigt sie ein bisschen dadurch, dass sie ihr erzählt, was in der Gemeinde passiert. Die beiden Frauen telefonieren fast täglich. Einmal im Monat besucht Libenson ihre Glaubensschwester in ihrer Wohnung. Meist hat sie die aktuelle Gemeindezeitung in der Tasche, die sie dann mit Rosa Gabovich durchblättert.

 

Besuchsdienst Bikkur Cholim in Würzburg
Elena Libenson und Grigoriy Zozulya vom Besuchsdienst Bikkur Cholim der jüdischen Gemeinde in Würzburg sind bei Rosa Gabovich (Mitte) zu Gast.

Was Bikkur Cholim mit der "Mizwa" zu tun hat

In der jüdischen Religion ist die "Mizwa" genannte "gute Tat" von zentraler Bedeutung, erklärt Erika Frank. Durch ein Engagement bei Bikkur Cholim kann die Pflicht zur guten Tat erfüllt werden. Wobei Bikkur Cholim keineswegs der einzige Dienst ist, in dem sich Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Würzburg engagieren. Viele Senioren nehmen gleich mehrere Dienste in Anspruch. Sie werden zum Beispiel von einem Bikkur-Cholim-Ehrenamtlichen besucht und erhalten gleichzeitig hauswirtschaftliche Hilfe von einem Freiwilligen des jüdischen Vereins "Esko". Auch gibt es Ehrenamtliche, die sich für an Demenz erkrankte Gemeindemitglieder einsetzen.

Letztere benötigen allerdings eine Qualifikation, erklärt Frank: "Demenzhelfer werden bei uns in Kooperation mit der Evangelischen Sozialstation in Würzburg ausgebildet." Die Ehrenamtlichen von Bikkur Cholim seien ebenfalls gehalten, sich Wissen zum Thema "Pflege" anzueignen. Im Gemeindezentrum "Shalom Europa" werden häufig Veranstaltungen organisiert, die über Demenz, das Landespflegegeld oder die Leistungen der Pflegversicherung informieren. Finanziell Bescheid zu wissen, ist wichtig, denn fast alle vom Bikkur-Cholim-Team besuchten Senioren leben von Grundsicherung. Oft müssen Schwierigkeiten gelöst werden, die mit Geld zusammenhängen.

Der Unterschied zwischen Bikkur Cholim und Nachbarschaftshilfen

Bei gravierenden Problemen informieren die Freiwilligen Sozial- und Migrationsberaterin Erika Frank, die als Hauptamtliche im "Shalom Europa" noch mal ganz andere Einflussmöglichkeiten als die ehrenamtlichen Helfer hat. Neulich hatte es Frank zum Beispiel mit einem von Grigoriy Zozulya besuchten Senior zu tun, dem ein Bein amputiert werden musste. Der Mann wusste nicht, wie er seine Krankenkasse dazu bringen könnte, ihm eine Prothese zu bezahlen. Frank intervenierte - nun hat der Betroffene ein künstliches Bein.

Dass man bei Erika Frank immer Rat einholen kann, das macht die Qualität von Bikkur Cholim in Würzburg aus, meint Elena Libenson. Alleine würde sie sich manches Mal recht unsicher fühlen. Erika Frank hilft jedoch nicht nur bei praktischen Problemen. Sie spricht Gemeindemitglieder auch auf Bikkur Cholim an, wenn sie mitbekommt, dass sich jemand schon länger nicht mehr hat blicken lassen. Auch das ist ein großer Unterschied zu vielen christlichen Nachbarschaftshilfen: Bei Bikkur Cholim wartet man nicht darauf, dass sich ein Senior in Not meldet und um Hilfe bittet. Die Gemeinde geht auf Hilfsbedürftige zu und bietet die "gute Tat" offensiv an.