Etwa 9.000 Menschen haben sich in Deutschland im zurückliegenden Jahr das Leben genommen. Eine Zahl, die seit einigen Jahren relativ konstant ist. Ganz subjektiv rechnet Jörg Schmidt für die kommenden Jahre mit einem Anstieg. Der Stadtsteinacher ist seit 2017 Bundesgeschäftsführer von AGUS, der zentralen Selbsthilfeorganisation für Menschen, die einen nahestehenden Menschen durch Suizid verloren haben. Die Geschäftsstelle hat ihren Sitz in Bayreuth.

Ursachen sind nicht nur die aktuellen Krisen, sondern auch die Nachwirkungen von Corona. "Corona hat die normale Entwicklung junger Menschen in vielen Fällen völlig ausgebremst", sagt Jörg Schmidt. Mangels sozialer Kontakte hätten sich viele Jugendliche und Heranwachsende eine Parallelwelt im Internet aufgebaut oder seien ganz auf die schiefe Bahn geraten und in die falschen Kreise geraten.

Einrichtungen in Deutschland sind überlastet

"Vor allem die Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie sind völlig überlastet", sagt der Erwachsenenpädagoge, der zuvor Leiter des Pilgerbüros in Marienweiher war und den Chor "SANvoices" leitet. Diese Entwicklungen waren auch Thema bei der AGUS-Jahrestagung, die kürzlich in Bad Alexandersbad stattfand.

Prominenter Gast war die Schauspielerin Michaela May. Sie hatte anlässlich der Veröffentlichung ihrer Autobiografie im vergangenen Jahr erstmals darüber gesprochen, dass ihre drei Geschwister im Alter von 22, 28 und 34 Jahren jeweils aufgrund einer Depression durch Suizid gestorben waren. Darüber habe man zu Hause nicht sprechen dürfen, so die Schauspielerin. Ihre Lesung gab auch Einblicke in die Psychiatrie der 1970er Jahre, die damals noch in den Kinderschuhen steckte. Suizid sei ein absolutes Tabuthema gewesen, die katholischen Eltern seien regelrecht aus der Kirche ausgeschlossen worden.

"Für uns war die Lesung und das Gespräch mit Michaela May eine gute Gelegenheit, darauf aufmerksam zu machen, dass Suizid jeden treffen kann", so Geschäftsführer Jörg Schmidt. "Michaela May hat versucht, den Menschen Mut zu machen".

180 Teilnehmer beim AGUS Jahrestreffen

Ein weiterer Vortrag von Nathalie Oexle befasste sich mit den gesellschaftlichen Reaktionen nach einem Suizid. Die Juniorprofessorin der Universität Ulm hat zu diesem Thema intensiv geforscht und kam unter anderem zu dem Ergebnis, dass sich Hinterbliebene stärker stigmatisiert fühlen, weil sie sich mitverantwortlich fühlen und das soziale Umfeld oft hilflos reagiert.

"Hinterbliebene haben oft das Gefühl, dass sie gemieden werden", so die Professorin, die selbst betroffen ist und ihre Mutter durch Suizid verloren hat. Nun darf man sich die AGUS-Jahrestagung, zu der diesmal 180 Menschen aus ganz Deutschland kamen, nicht als düstere Trauerversammlung schwarz gekleideter Menschen vorstellen. Es gab eine Alpaka-Wanderung, der Historiker Adrian Roßner erzählte von der Kultur des Fichtelgebirges, wer wollte, konnte an einem Klangschalen-Workshop teilnehmen, und unter dem Titel "Junge Hinterbliebene" gab es auch altersspezifische Angebote für Kinder und Jugendliche, die einen nahen Angehörigen durch Suizid verloren haben.

"Natürlich gab es auch emotionale Momente", sagt Jörg Schmidt. In einem Gottesdienst mit Pfarrerin Andrea Schmolke aus Ahornberg in der katholischen Kirche in Bad Alexandersbad wurde der Verstorbenen gedacht. AGUS verwendet ausschließlich die wertneutralen und beschreibenden Begriffe Suizid (aus dem Lateinischen) und Selbsttötung. Im Alltag wird häufig von Suizid gesprochen. Mord ist die schwerste Straftat, die das Strafgesetzbuch kennt und bezeichnet die Tötung eines anderen Menschen aus niedrigen Beweggründen.

AGUS bekommt keine staatlichen Mittel

Der Begriff Mord habe nichts mit der Situation eines verzweifelten Menschen zu tun, der sich das Leben nimmt. Suizidtrauernde seien keineswegs Hinterbliebene eines Mörders. Auch der Begriff "Selbstmord" beschreibt nach Ansicht von AGUS nicht die Situation von Menschen, deren Entscheidung von Ausweglosigkeit geprägt ist. Die Selbsthilfeorganisation AGUS wurde 1989 von der inzwischen verstorbenen Bayreutherin Emmy Meixner-Wülker gegründet.

Seit 1995 ist die Selbsthilfeorganisation als gemeinnütziger Verein organisiert. Derzeit gibt es bundesweit 103 Gruppen. Der Verein hat über 1100 Mitglieder, meist betroffene Angehörige. In der Bundesgeschäftsstelle in Bayreuth arbeiten neben Jörg Schmidt als Geschäftsführer drei weitere Mitarbeiter. Finanziert wird die Arbeit aus Mitteln des Selbsthilfeförderungsgesetzes sowie aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Staatliche Mittel erhält AGUS nicht.

Hilfe bei Suizidgedanken

Ihr denkt an Suizid, macht euch um jemanden Sorgen oder habt einen Menschen aufgrund eines Suizidtodesfalls verloren? Hier findet ihr Erste-Hilfe-Tipps und Notfallkontakte sowie weiterführende Informationen zur Bewältigung dieser Notsituation

Zögert bitte nicht, bei der Telefonseelsorge anzurufen:

Evangelisch: 0800 1110111 (24 Stunden erreichbar, 7 Tage die Woche)

Katholisch:  0800 111 0 222 (24 Stunden erreichbar, 7 Tage die Woche)

Gemeinsam: 116 123

Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche: 116 111 (Montag bis Samstag 14 - 20 Uhr)
Nummer gegen Kummer für Eltern: 0800 - 111 0 550 (Montag bis Freitag 9 – 17 Uhr, Dienstag und Donnerstag bis 19 Uhr)

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