Sophie Scholl, Widerstandskämpferin der Weißen Rose, wurde am 9. Mai vor 100 Jahren geboren. Hildegard Kronawitter, Vorsitzende der Weiße-Rose-Stiftung, beschreibt im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) die christlich-humanistische Prägung und die Ziele von Sophie Scholl sowie ihre Liebe zu Johann Sebastian Bach.

Warum wurde Sophie Scholl zu einer Ikone des Widerstands?

Kronawitter: Sie ragt in ihrer Bekanntheit heraus, weil sie entgegen der vom politischen und gesellschaftlichen Kontext ihrer Zeit zugestandenen Frauenrolle handelte. Die Verehrung für Sophie Scholl geht weit über den großen Respekt hinaus, der den weiteren Mitgliedern der Weißen Rose gilt.

Was unterschied sie von den Männern des 20. Juli?

Kronawitter: Es waren Männer des Militärs, geprägt von ihren beruflichen Karrieren, die mehr Einblick in die Kriegsverbrechen hatten. Der Widerstand der Weißen Rose war nicht gewaltbereit. Ihre Mitglieder setzten darauf, die Menschen aufzuklären, und hofften, sie würden sich dann gegen das System wenden. "Bitte lesen und weitergeben" stand deshalb auf den Flugblättern. Sie rechneten mit der Einsicht der Menschen.

Was waren die Wurzeln von Sophie Scholl?

Kronawitter: Ein christlich geprägtes Gewissen. Ihr Vater war liberal, politisch klar denkend und weltoffen. Die Mutter, bis zur Eheschließung Diakonisse, prägte die Kinder im christlich-humanistischen Geist. Werte wie Freiheit, Menschenwürde und Gerechtigkeit wurden als Vision für eine bessere Welt aufgenommen. Sophie war sprachlich begabt, sie konnte gut zeichnen, und sie liebte klassische Musik.

Welche Musik mochte sie?

Kronawitter: Die Musik von Johann Sebastian Bach, und zwar wegen seiner Klarheit. In einem Brief nennt sie ihn den "besten Erzieher": "Andere berauschen, sie heben einen weg in Gefühle. Bei Bach aber muss man große Beherrschung zum Spiel und zur Klarheit aufbringen; der Lohn ist, dass man dabei selbst klar wird." Beim Reichsarbeitsdienst in Krauchenwies erlaubte ihr der Pfarrer, auf der Orgel der Dorfkirche zu spielen.

Was waren die Ziele von Sophie Scholl?

Kronawitter: Freiheit. Sie schrieb mit fein ziselierter Schrift mehrmals "Freiheit" auf die Rückseite ihres Vernehmungsprotokolls. Ein stummer und doch so mächtiger Protest gegen die NS-Diktatur. Neben der Freiheit ging es ihr um Gerechtigkeit. Ziel war auch ein freies Europa - ein sehr moderner Gedanke. Ein Europa der Menschenwürde, in dem der Einzelne Verantwortung trägt.

Aber gegen den Willen des politisch liberal eingestellten Vaters bekleideten die Scholl-Kinder führende Rollen in den NS-Jugendorganisationen. Wie war das bei Sophie?

Kronawitter: Sie war 13, als sie am Abend des 20. April 1934 auf der Ulmer Gänsewiese ihr Gelöbnis für die "Jungmädelschaft" ablegte. Ein Jahr später war sie "Jungmädelschaftsführerin" und betreute fünfzehn Mädchen im Alter von zehn bis vierzehn Jahren. Damit übernahm sie eine neue Rolle, die ihre Freundin Susanne Hirzel folgendermaßen umschreibt: Sophie "war wie ein feuriger wilder Junge […] sie war keck, mit heller klarer Stimme, kühn in unseren wilden Spielen und von einer göttlichen Schlamperei". Im Mai 1936 war sie "Scharführerin" und damit für vier Jungmädelschaften verantwortlich.

Sie ging also darin auf?

Kronawitter: Mädels sind brav und haben Zöpfe, das war damals vorherrschend. Sophie hatte einen frechen Kurzhaarschnitt. In der Jungmädelarbeit konnte sie ihre Talente entfalten; Radtouren und Zeltlager mit Selbstversorgung zu organisieren, war für Mädchen damals etwas Neues.

Wie kam es zum Bruch mit der NS-Jugendarbeit?

Kronawitter: Als Sophie am 31. August 1937 von einer großen Sommerfahrt in den Böhmerwald zurückkam, schrieb sie in ihr Tagebuch: "Von der HJ habe ich mich ohne mein Wollen ganz gelöst. Ich habe nichts mehr zu geben, nichts mehr zu nehmen." Ihre Führungsaufgabe beim BDM endete im Frühjahr 1938. Sophie und andere Gruppenführerinnen hatten sich statt des Hakenkreuzes einen Drachen auf ihren Wimpel genäht - offenbar ihrem Wunsch nach Individualität entsprechend. Demütigend wurden die Mädchen vor ihren Gruppen als Führerinnen abgesetzt. Diese Erfahrung hat sie ins Nachdenken gebracht.

Ab wann wandte sich Sophie Scholl gegen den NS-Staat?

Kronawitter: Sie störte sich am Gruppenzwang und an der Ausgrenzung jüdischer Freundinnen. Einschneidend war Ende 1937 die Verhaftung von drei ihrer Geschwister wegen "bündischer Umtriebe". Die Geschwister Inge und Werner wurden nach Stuttgart zu Verhören gebracht und tagelang festgehalten. Entscheidend war dann wohl der Kriegsbeginn. In einem Brief an ihren Freund Fritz Hartnagel am 5. September 1939 heißt es: "Ich kann es nicht begreifen, dass nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen und ich finde es entsetzlich. Sag nicht, es ist fürs Vaterland."

Wann schloss sie sich dem Widerstand an?

Kronawitter: Mit Beginn ihres Studiums im Frühjahr 1942 integrierte sie sich im studentischen Freundeskreis, der sich um ihren Bruder Hans und Alexander Schmorell gebildet hatte. Im Mai 1942 stieß Christoph Probst dazu, dann Willi Graf. Am 17. Juni 1942 begegnete sie bei einer literarischen Abendgesellschaft erstmals Professor Kurt Huber, der harsche Regimekritik äußerte. Hans Scholl und Alexander Schmorell wollten es bei interner Kritik an Diktatur und Krieg nicht länger bewenden lassen. Sie verfassten die ersten vier Flugschriften mit der Überschrift "Flugblätter der Weissen Rose". Ein dreimonatiger Einsatz der Sanitätssoldaten an der Ostfront ab 23. Juli 1942 beendete diese Widerstandsaktion. Nach ihrer Rückkehr im November waren sie noch entschlossener zu handeln. Spätestens jetzt war Sophie Scholl mit dabei, auch Willi Graf, Professor Kurt Huber und Traute Lafrenz.

Was war der konkrete Beitrag von Sophie?

Kronawitter: Sie besorgte unter schwierigen Umständen Abzugspapier, Briefumschläge und Briefmarken, sie schrieb Adressen im Deutschen Museum ab, übertrug diese auf Kuverts und führte die Kasse. Rund 6.000 Abzüge des Flugblatts "An alle Deutschen" mit dem flammenden Aufruf zum Widerstand und zur Beendigung des Krieges sowie der Forderung nach klassischen Freiheitsrechten wurden unter hohem persönlichen Risiko in verschiedene deutsche und österreichische Städte gebracht. Sophie Scholl übernahm den Transport nach Augsburg, Ulm und Stuttgart. In München wurden in der Nacht zum 29. Januar zudem rund 2.000 Flugblätter verstreut. Sophie trug tagsüber Flugblätter bei sich, um sie "bei günstiger Gelegenheit" in Telefonzellen oder parkenden Autos auszulegen.

Zum Verhängnis wurde das sechste Flugblatt.

Kronawitter: Im sechsten und letzten Flugblatt, betitelt "Kommilitoninnen! Kommilitonen!", wurde unter dem Eindruck der Niederlage von Stalingrad Anfang Februar 1943 dazu aufgerufen, die Diktatur zu überwinden und den Krieg zu beenden. Etwa 1.000 der rund 3.000 gefertigten Exemplare wurden verschickt und ein weiterer Teil verteilt. Die restlichen 1.500 packten Hans und Sophie Scholl am Vormittag des 18. Februar in einen Koffer und eine Aktentasche, um sie im Hauptgebäude der Münchner Universität auszulegen. Sie legten die Flugblätter in kleinen Packen vor den Hörsaaleingängen und auf Treppenstufen ab. Schon am Hinterausgang angekommen, kehrten sie noch einmal um, eilten die Treppe zum ersten Stock hoch, um dort die restlichen Blätter abzulegen. Sophie hastete noch einen Stock höher, legte einen Stapel von 80 bis 100 Blättern auf die Brüstung über dem Lichthof. Die Blätter flatterten nach unten. Wie Sophie im Verhör aussagte, hatte sie den Stapel selbst angestoßen. Die Geschwister ließen sich ohne Gegenwehr vom Hausschlosser der Universität festhalten, wurden ins Rektoratszimmer gebracht und weiter zur Vernehmung in die Gestapo-Zentrale im Wittelsbacher Palais. Das Drama hatte begonnen, seinen Lauf zu nehmen.

Der Gestapo-Mann Robert Mohr hat sie verhört. Nach dem Krieg wurde er nie belangt, er behauptete sogar, er wollte ihr helfen. Was ist da dran?

Kronawitter: Zunächst wollten sie und ihr Bruder alles abstreiten. Nachdem Beweise in ihrer Wohnung gefunden wurden und ihr Bruder gestanden hatte, kam die Kehrtwendung. Sie bekannte ihre Rolle im Widerstand als ihre Entscheidung. Plötzlich wurde bei ihr eine starke Entschlossenheit spürbar, den Widerstand zu ihrer Sache zu machen. Sie hat mit Mohr gerungen. Ich glaube ihm sogar, dass er sie vor der Hinrichtung bewahren wollte. Doch sie lehnte eine mögliche Ausflucht ab, von ihrem Bruder zu den Handlungen verführt worden zu sein. Nach dem selbstgewählten Motto "einer muss ja damit einmal anfangen" stand sie für ihr Denken und Handeln ein. Sie bereute nichts.