Am ersten Weihnachtsfeiertag hat in Regensburg eine 24-jährige Frau mutmaßlich ihr neugeborenes Kind getötet. Die Babyleiche wurde in einer Mülltonne gefunden. Die Nachricht, die in die weihnachtliche Idylle platzte, erschütterte bundesweit. "Möglicherweise eine Verzweiflungshandlung", sagt Doris Schiller, die Leiterin der Schwangerenberatung Donum Vitae in Regensburg, im Sonntagsblatt-Interview. Seit über 20 Jahren berät sie schwangere Frauen in Konfliktsituationen.
Frau Schiller, welche Alternativen hätten der jungen Mutter zur Verfügung gestanden?
Doris Schiller: Donum Vitae betreibt seit 2001 das Projekt "Moses", das die Beratung für eine anonyme Geburt übernimmt. Seit 2014 gibt es die Möglichkeit einer vertraulichen Geburt. Diese gesetzliche Regelung ermöglicht den Kindern, mit 16 Jahren den Namen der leiblichen Mutter zu erfahren. Beide Wege werden Frauen angeboten, die in äußerste Not geraten sind. Sowohl die Schwangerenvorsorge als auch die Entbindung und Beratung und Begleitung nach der Geburt gehören zum Beratungsangebot.
An welche Frauen richtet sich das Beratungsangebot?
Schiller: Die Zielgruppe des Projektes sind Frauen, die so verzweifelt sind, dass sie daran denken, ihr Kind auszusetzen oder gar zu töten. Da sollte ein Notnagel geschaffen werden für Menschen, die so verzweifelt sind wie die junge Mutter, die jetzt mutmaßlich ihr Neugeborenes getötet hat.
Dieser "Notnagel" hat die Regensburger Mutter nicht erreicht. Haben die gesellschaftlichen Sicherungssysteme versagt?
Schiller: Das müssen wir uns alle fragen, wie man in angemessener Weise dieser Not begegnen kann, so dass der betroffene Einzelfall zu unserem Angebot findet und es annehmen kann. Unser Angebot muss ja dort hinkommen, wo sich die Not befindet.
Welche Notlagen sind das, in denen schwangere Frauen zu Ihnen kommen?
Schiller: Die Frauen schildern oft, dass sie selber erst zu einem sehr späten Zeitpunkt erfahren haben, dass eine Schwangerschaft vorliegt. Oft wurde es verdrängt oder die Schwangerschaft blieb unbewusst. Oder der Fokus des Lebens liegt auf etwas anderem. Manchmal sind auch medizinische Gründe die Ursache. Auch psychische Gründe können eine Rolle spielen, unverarbeitete Dinge aus der eigenen Kindheit, die eine Annahme des Kindes verhindern. Aber die werdenden Mütter schildern häufig, dass sie die Schwangerschaft erst sehr spät bemerkt haben, und danach nicht wussten, wie es weitergehen kann.
Warum empfinden Ihre Klientinnen die Lage als ausweglos?
Schiller: Häufig ist es so, dass sich Frauen gesellschaftlich geächtet fühlen, dass sie den Eindruck haben, in ihrem persönlichen Umfeld hat diese Schwangerschaft, hat dieses Kind keinen Platz. Sie fühlen sich dieser Herausforderung, die ein Kind mit sich bringt, momentan nicht gewachsen, und sie sehen einfach keine andere Lösung. Jede Geschichte ist dabei völlig individuell und muss individuell begleitet und unterstützt werden.
Welche Art von Druck ist es, die auf den Frauen lastet, wenn ein Kind in der Biografie keinen Platz hat?
Schiller: Die Frauen empfinden einen riesengroßen Druck, wenn man sich nicht vorstellen kann, dass man ein Kind in das eigene Leben integriert; es könnte ja zum Beispiel eine Adoption angebahnt werden. Aber es ist so: Wir leben immer noch in einer Gesellschaft, in der eine abgebende Mutter bei weitem nicht die gesellschaftliche Achtung erfährt wie Eltern, die ein Kind aufnehmen. Das sind oft gesellschaftliche Vorstellungen, die im Inneren eines Menschen tief verankert sind.
Tun sich Frauen nach der Beratung leichter, das Kind auszutragen und zur Adoption freizugeben?
Schiller: Frauen schildern oft, dass es ihnen unwahrscheinlich wichtig ist, dass ihr Kind in guten Verhältnissen groß werden kann. Unsere Erfahrung mit den abgebenden Müttern ist, dass sie sehr verantwortungsbewusst denken, wirklich tiefgreifend und bei weitem nicht von leichter Hand entscheiden, wenn wir sie erreichen und begleiten können. Aus beraterischer Sicht ist es so, dass hinter jedem Einzelschicksal eine riesengroße Not steckt. Mein Appell an die Gesellschaft ist, nicht in die Bewertung zu gehen, sondern in die Unterstützung und Toleranz. Frauen, die sich in einer solchen Not befinden, brauchen offene Türen, jemanden, der sie auf das Beratungsangebot hinweist und ihnen Mut macht.