Sachthemen aus dem sozialen Bereich entscheiden selten darüber, wo Wählerinnen und Wähler ihr Kreuz machen. Zwar ist das Thema "Soziale Gerechtigkeit" nach Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen vielen Menschen für ihre Wahlentscheidung am wichtigsten, allerdings folgen weitere Sozialthemen wie Rente und Miete im Ranking erst mit weitem Abstand.

Kandidaten spielen größere Rolle als Sachinhalte

"Diese Themen werden im aktuellen Wahlkampf beispielsweise von den Themen Klimaschutz und Corona deutlich überdeckt", sagte der Mannheimer Sozialwissenschaftler Rüdiger Schmitt-Beck dem Evangelischen Pressedienst (epd). Für ihn ist klar: Die Bewertung der jeweiligen Spitzenkandidaten wirkt sich deutlich stärker auf die Entscheidung der Menschen vor der Bundestagswahl am 26. September aus als konkrete Sachinhalte der Parteien.

Die Wichtigkeit eines Themas könne sich laut Schmitt-Beck indes kurz vor dem Wahltermin jederzeit ändern. "Was in den Köpfen der Menschen präsent ist, ist am Ende oft auch wahlentscheidend für viele Wahlberechtigte", erklärt er.

Forschungsgruppe Wahlen: "Persönlich oft nicht betroffen"

So könne es passieren, dass sich die Stimmungslage durch ein unvorhergesehenes Ereignis plötzlich ändere. Beispiel hierfür sei die Nuklearkatastrophe von Fukushima im März 2011. "Die tatsächliche Auswirkung eines solchen Ereignisses wird dann auch von der Berichterstattung in den Medien beeinflusst", sagt Schmitt-Beck.

Entscheidend ist nach Aussage des Bereichsleiters Politik- und Sozialforschung des forsa-Instituts in Berlin, Peter Matuschek, zudem, ob Wählerinnen und Wähler einer Partei und ihrem Kandidaten zutrauen, das Land durch Krisen zu führen. "Hier ist die Frage, ob einer Partei und ihrem Kandidaten die Kompetenz zur Lösung von Problemen zugesprochen wird." Auch er sagt, dass sozialpolitische Themen bei Wahlentscheidungen nur eine indirekte Rolle spielen. "Das hängt unter anderem damit zusammen, dass sich Bürgerinnen und Bürger bei sozialen Themen, wie beispielsweise bei der Anhebung des Mindestlohns, persönlich oft nicht betroffen fühlen", sagt der Wahlforscher. Zwar seien sie grundsätzlich für höhere Löhne, viele profitierten jedoch nicht unmittelbar davon.

Aktuelle Geschehnisse spielen eine Rolle

"Der soziale Bereich ist einfach keiner, der unglaubliche Wellen schlägt. Die Auswirkungen einzelner Reformen ändern das Leben der Bürgerinnen und Bürger oft nicht spürbar von einem auf den anderen Tag", sagte auch der Sozialwissenschaftler Johannes Blumenberg dem epd.

Ob und in welchem Ausmaß ein Thema im Wahlkampf relevant sei, hänge häufig mit aktuellen Geschehnissen vor der Wahl zusammen, sagte der Parteienforscher des Mannheimer GESIS-Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften. So seien bei der Bundestagswahl 2005 die beschlossenen Hartz-Reformen ein den Wahlkampf bestimmendes Thema gewesen.

"Soziales als Markenkern der SPD"

Schmitt-Beck zufolge wird der SPD traditionell auch heute noch eine besondere Kompetenz im Sozialen zugesprochen. "Allerdings ist zu sehen, dass das einst sehr klare Profil der Partei in dieser Form nicht mehr existiert. Die momentane Unschärfe ihres Profils führe dazu, dass die SPD nicht mehr automatisch davon profitiert, wenn Soziales zur Sprache kommt", sagt Schmitt-Beck. Gleiches gelte für die Union im Bereich Wirtschaft. Einzig der Klima-Schwerpunkt der Grünen sei klar definiert.

"Soziales als Markenkern der SPD ist Resultat der Parteigeschichte", sagt Wolfgang Schroeder von der Universität Kassel. Im aktuellen Wahlkampf seien vor allem die Themen Rente, Mindestlohn, Kindergrundsicherung, Tarifautonomie und Pflege wichtig. "Diese Kernthemen der Partei sind wesentliche Bedingung für den momentanen Erfolg", sagt Schroeder.

Dass die Partei in aktuellen Umfragen führt, ist nach der Einschätzung des Sozialwissenschaftlers Peter Matuschek jedoch kein Indiz für einen besonderen Stellenwert sozialer Themen im aktuellen Bundestagswahlkampf. "Eine Wahlentscheidung zu treffen, ist in diesem Jahr einfach deutlich komplexer als in den Jahren zuvor", sagt er. Vielmehr profitiere die SPD momentan vom Misserfolg der Union.