Reformationstag, liebe Gemeinde. Das bedeutet Tag der Erneuerung. Erneuerung -  da denkt man an die Renovierung der Wohnung, die herbstliche Umgestaltung des Gartens für das nächste Frühjahr. Erneuerung kann man an sich selbst betreiben: Beim Friseur mit einem mutigen anderen Haarschnitt, in der Wahl eines veränderten Kleidungsstils. Manchmal braucht auch eine Beziehung frischen Wind – da müssen sich dann zwei mit viel Mumm darum bemühen. Gesetze werden reformiert und manchmal eine ganze Verwaltung.  Auch das braucht Mut.

Die Erneuerung, die Luther samt den anderen Reformatoren im Sinn hatten, geht noch viel tiefer. Diese Erneuerung zielt darauf ab, sich mit den eigenen Ursprüngen zu befassen. Das ist prinzipiell eine gute Sache: Zu wissen und zu verstehen, wo man herkommt.

Denn erst, wenn man das weiß – wer bin ich, wo liegen meine Wurzeln, was hat mich geprägt – dann kann man sich auch verändern. Die Reformation führt zurück zu den Quellen des christlichen Glaubens. Und die beginnen mit Jesus, dem Juden. Er ist der Sohn jüdischer Eltern. Er wurde nach jüdischem Brauch beschnitten. Er lernte die Thora, ging in die Synagoge und feierte den Sabbat. Er ließ sich wie einige Juden seiner Zeit von Johannes dem Täufer im Jordan taufen. Er ist ganz in der Tradition unserer Glaubensgeschwister aufgewachsen. 

Niemals hat er verleugnet, wo er herkam. Im Gegenteil: Jesus hat sich immer auf die Schriften des Alten Testamentes bezogen. Er liebte sie offensichtlich und hat sie häufig zitiert. Manchmal, um sie zu erläutern, ihren eigentlichen Sinn deutlich zu machen, sie klug fortzuführen oder da zu widersprechen, wo er den Eindruck hatte, sie werden missverstanden. Er hat sie zugespitzt oder sie auch neu interpretiert. Soviel geistige Mühe macht man sich nur mit etwas, an dem einem gelegen ist. Für Jesus waren die Schriften der Vorfahren unverzichtbar.

Es ist schön, dass wir an diesem Reformationstag ein Bibelwort an die Hand bekommen, das aus dem Alten Testament stammt. Und nicht nur das. Dieses Bibelwort ist das jüdische Glaubensbekenntnis, das Sch´ma Israel. Höre Israel! Heißt das.

Unsere jüdischen Glaubensgeschwister beten das Sch´ma Israel täglich – seine Lesung ist das zentrale geistliche Ereignis im Gottesdienst der Synagoge. Höre Israel - dieses Bekenntnis erzählt von einem Brauch, der mich tief beeindruckt. Biblische Worte auf die Hand und zwischen die Augen binden, sie auf die Türrahmen schreiben.

Eine ungewöhnliche Art, sich etwas einzuprägen. Strenggläubige Juden tragen zu jedem Morgengebet die Tefillin. Das sind Gebetsriemen aus Leder. An ihnen sind kleine, eckige Kapseln befestigt. Darin wieder stecken Pergamentstücke mit Bibeltexten. Eine Kapsel trägt der Betende auf der Stirn. Die andere wird mit einem Lederriemen so am linken Arm festgewickelt, dass sie genau vor dem Herzen liegt. Wer den Gebetsriemen mit den Kapseln anlegt, hat die Worte der Thora direkt vor Augen und kann sie sogar praktisch am Körper spüren. Mir gefällt das.

Die Bänder und Kapseln verbinden Kopf, Herz und Hand. Sie sollen dafür sorgen, dass Verstand, Gefühl und Handeln gut miteinander harmonieren, dass sie zusammenarbeiten. Man achtet mehr auf das, was man denkt oder sagt. Schließlich: Der Betende ist sich gewiss, dass Gott seine Gedanken lenkt und schützt. Dass er ihm Wissen und Weisheit vermittelt und sein Handeln segnet. Ein Rabbi mit Namen Jisrael Salanter (1810–1883) hat einmal gesagt, es gäbe auf der Welt keine größere Entfernung zwischen zwei Orten als die Entfernung zwischen dem Herzen einer Person und ihrem Verstand.

Diese Einsicht kann ich sofort nachvollziehen. Manchmal weiß ich es eigentlich besser und kann es doch nicht lassen. Das viele Arbeiten zum Beispiel, selbst dann, wenn ich mal Ruhe geben sollte. Oder ich setze in einem Gespräch noch eins drauf, obwohl alles bereits gesagt wurde und ich die Diskussion damit noch einmal völlig unnötig anheize.

Wir kennen alle den Kampf zwischen Geist und Herz, den Konflikt zwischen unseren Emotionen und dem Intellekt. Vielleicht sollten wir uns auch einmal Worte der Bibel anlegen, um Herz und Verstand miteinander zu verbinden.

Wir könnten so den Graben zwischen den beiden überwinden und damit ausgewogener, klüger und herzenswärmer leben. Das wäre eine wohl tuende Erneuerung, eine weise Reformation unseres Lebens. Ich begreife, warum im jüdischen Glaubensbekenntnis das Anlegen der Gebetsriemen geboten wird. Um den Glauben zu leben, auch unseren christlichen, braucht es eben beides. Es braucht auf der einen Seite Einsicht, Klugheit und Scharfsinn. Und wir brauchen Gefühle, Emotionen. Das ist aber immer noch nicht alles. Genauso wichtig ist die Einheit von Gedanken, Worten und Taten.

Die Gebetsriemen verbinden den Kopf als Ursprung der Gedanken mit dem Arm, der unsere Taten ausführt. Also erst denken, bevor man loslegt. Also weder handeln, ohne zu grübeln, was man da macht. Aber auch nicht bloß sinnieren und räsonieren, ohne jemals eine Hand zu rühren. Das ist doch alles wirklich höchst lebenspraktisch im Alten Testament festgehalten! Wie gut, sich am Tag der Reformation, der Erneuerung auf unsere Wurzeln im jüdischen Glauben zu besinnen. Da ist auch noch der Türpfosten, auf den unsere Glaubensgeschwister die Worte Gottes schreiben sollen.

Mesusa bedeutet im Judentum Türpfosten und ist zugleich eine Schriftkapsel, die Worte aus dem Alten Testament enthält. In einem traditionellen jüdischen Haushalt befindet sich an jedem Türrahmen eine Mesusa, außer am Badezimmer oder an Kellertüren und Abstellräumen.

Die Mesusa hängt immer schief. Warum? Eine Erklärung gefällt mir am besten. Sie hängt schräg, um damit auszudrücken, dass nur Gott die Dinge richtigmachen und geraderücken kann. Nicht aber unsereins, weil wir unvollkommen sind und ziemlich häufig schiefliegen.

Das ist doch wirklich ganz liebevoll versinnbildlicht mit der Mesusa. Diese Schrift auf den Türpfosten erinnert mich sehr an das C und M und B, das wir am Epiphaniastag über die Haustür schreiben, wenn die Heiligen Drei Könige singend vorbeikommen. C+M+B bedeutet: Christus mansionem benedicat – Christus segne dieses Haus. Er allein ist es, dem wir unser Leben anvertrauen, dem wir mit Leib und Seele nachfolgen sollten - nicht den Herren dieser Welt. "Ich bin allein dein Gott"- das rufen die Reformatoren in Erinnerung so, wie das "Höre Israel".

"Ich bin allein dein Gott". Wir sollen uns darauf zurückbesinnen – und damit auf unsere biblischen und eben auch jüdischen Wurzeln. Ist es nicht schrecklich, wie viele Menschen in unserem Land antisemitisch denken und fühlen? Wie die Extremisten unter ihnen erbarmungslos zuschlagen? Geschändete Friedhöfe, Schmierereien an Synagogen, persönliche Drohungen und Attacken - schließlich Mord. Da fehlt es vollständig an der Verbindung von Kopf, Herz und Hand und erst recht an der Besinnung auf geistige biblische Werte.

Allerdings müssen wir auch uns selbst und unsere Geschichte kritisch anschauen. An der Stadtkirche von Wittenberg, der Stadt Luthers, ist ein Relief zu sehen: Eine Sau mit Ferkeln und Menschen, die als Juden gekennzeichnet sind. Hinter der Sau steht ein Rabbiner, der den Ringelschwanz hochhebt und darunter schaut. Über der Darstellung steht die Inschrift "So sieht der unaussprechliche heilige Name des Gottes des Rabbiners aus." Unsäglich! Relief und Inschrift sind eine gehässige Verbindung zwischen dem Gottesnamen, der für Juden unaussprechbar heilig ist, und der so genannten "Judensau".

Natürlich ist heute am Fuß der Kirche eine Tafel angebracht, die an die Missachtung von Juden erinnert und dazu mahnt, in die Rechte und die Würde aller Menschen gleich zu achten. Denn wozu es führt, wenn wir das nicht tun, hat die Barbarei des letzten Jahrhunderts gezeigt. Das Wort "Judensau" bzw. "Saujude" ist Älteren vor allem als Hetzparole aus der Zeit der Nazis bekannt. Es ist sofort einleuchtend, warum solche Worte und Darstellungen beleidigend sind. Die Wittenberger Kirche ist ein Beispiel dafür, wie Kirche immer wieder auf Menschen jüdischen Glaubens herabgeschaut hat.

Christen haben sich viel zu spät bewusstgemacht, dass sie oft verblendete, blindwütige Kirche waren, dass sie Judenhass und Antisemitismus geschürt haben.

In den schlimmsten Fällen der Geschichte haben Christenmenschen selber Pogrome, Hetzjagden gegen Juden angeführt. Diese Schuld müssen wir als Kirche bekennen. Und wir müssen in diesen Tagen des neuen Antisemitismus auf der Hut sein. Juden wird geraten, in der Öffentlichkeit nicht hebräisch oder jiddisch zu sprechen und keine Kippa zu tragen. Rapper können dagegen ungestört ihren brutalen Antisemitismus öffentlich verbreiten.

Wenn wir Gottesdienste und Gemeindeleben unserer jüdischen Freunde täglich schützen müssen, dann ist das kein Alarmzeichen. Es ist kein Armutszeugnis. Es ist, liebe Gemeinde, eine Schande für unsere Gesellschaft. Und es ist Zeichen für einen vitalen Rechtsterrorismus. Die Pyramide des Mordes beginnt mit sprachlicher Macht im Internet, in den Medien. Hass und Gewalt beginnen mit giftigen Worten in den Parlamenten. Sie enden mit Taten wie zuletzt in Halle. Gefeiert, befeuert und geteilt von Menschen im Netz. Widersprechen wir Antisemitismus und Hass, wo immer wir ihnen begegnen.

Wir sollten nicht zulassen, dass die jüdische Gemeinde im Geheimen leben und beschützt werden muss. Sie soll sichtbar sein! Schicken wir unsere Kinder in jüdische Kindergärten und Schulen. Gehen wir am Sabbat als Gäste in den Gottesdienst. Teilen wir Trauer und Festfreude persönlich und konkret.

Es ist ein unverdientes Geschenk an uns, dass Jüdinnen und Juden nach 1945 den Mut und die Kraft fanden, in Deutschland zusammen mit uns leben zu wollen. Es ist ein Segen, dass sich trotz unserer Schuld jüdisches Leben in Deutschland wieder neu entfaltet hat.

Was uns Christen und Juden trennt, ist Jesus. Für die einen eben ein Rabbi. Für die anderen der Messias, der verheißen ist und schon da war - als Jesus von Nazareth, der wunderbare Prediger, glasklare Argumentierer und liebevolle Menschenfreund. Der Glaube an Gott, der in Jesus ein menschliches Gesicht bekommen hat, dieser Glaube unterscheidet Christen und Juden. Dennoch – viele Juden und Jüdinnen, wie Muslime übrigens auch, sehen in Jesus ein großartiges Vorbild. Der jüdische Philosoph Buber nannte Jesus stets "meinen großen Bruder". Buber soll einmal gesagt haben: "Wenn der Messias eines Tages kommt, dann werden ihn viele Menschen, Juden und Christen, umringen und bedrängen und ihn fragen: ´Sag, warst Du schon einmal da?` Dann werde ich mich hinter den Messias stellen und ihm ins Ohr flüstern: ´Sag jetzt nichts!´"

Mir wäre das nicht so recht, wenn Jesus nichts sagen würde - weil ich mit unserem evangelischen Glauben gerne recht hätte. Aber das Rechthaben-Wollen ist keine gute Basis für ein wahrhaft tolerantes Miteinander. Ich würde anders als Buber sagen: Lassen wir uns überraschen davon, ob Jesus davon spricht, dass er bereits auf Erden war…und mit uns allen lacht. Wir Christen glauben an Jesus, den Juden – und pflegen damit die sympathische Verbindung mit unseren jüdischen Geschwistern. Sie bekennen: "Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein."

Christen und Juden haben einen gemeinsamen Gott, einen verbindenden Glauben, der fest auf ihn gegründet ist. Nächstenliebe ist unser Auftrag, eine Liebe, die dem anderen nur Gutes wünscht und tut. Kopf, Herz und Hand miteinander klug verbunden. Eine Rückbesinnung auf unsere Wurzeln, die es uns möglich macht, uns immer wieder mutig an kleine und große Reformationen zu wagen. Das geht. Deswegen, weil es Gott in Jesus Christus ist, der in allen Schieflagen sagt: "Siehe, ich mache alles neu!" (Offb 21,5). Amen.