"Go viral" – ein digital-denglischer Begriff, der auch bei uns schon länger umgeht: Etwas "geht viral", wenn es sich "wie ein Lauffeuer" (so das etwas antiquierte deutsche Idiom) in den sozialen Netzwerken verbreitet.

Lustige Bildchen mit mehr oder weniger sinnvoller Botschaft ("Memes") können das sein, oft aber auch "Fake News": Lügen und Halbwahrheiten. Denn Instagram, Twitter, TikTok, Facebook & Co. belohnen alles, was offenkundig Emotionen erzeugt, nicht das, was "wahr" ist. Das hält die Nutzer vor dem Bildschirm – auf dem man ihnen dann passgenau auf sie zugeschnittene Werbung präsentieren kann.

Starke Gefühle sind voyeuristischer Grusel, Schadenfreude und Mitleid, noch stärker ist Liebe, aber vor allem Hass und Empörung sind digital vermarktbar. Und zwar auf allen Seiten des politischen Spektrums, bei Rechten wie bei Linken.

Fake News und "querdenken"

Mit einem schwarzhumorigen Online-Spiel namens "Go Viral!" will nun die britische Regierung am Beispiel der Corona-Pandemie (jugendliche) Social-Media-Nutzer für diese Zusammenhänge sensibilisieren.

Corona hat nicht erst jetzt, in der zweiten Pandemie-Welle, eine Welle an "Fake News" und Verschwörungstheorien ausgelöst, die weit über die Gemeinde der Impfgegner und Q-Anon-Irren hinausgeht.

Bei dem von der Universität Cambridge entwickelten Spiel, das es inzwischen auch auf Deutsch gibt, wird der Nutzer in die Rolle eines Überbringers gefälschter Pandemienachrichten versetzt.

Was motiviert Menschen, die abstruse, falsche Informationen in die Welt setzen? Wer verbreitet sie dann weiter und warum? Mit welchen Kunstgriffen funktioniert das am besten? Wie müssen solche Botschaften formuliert sein? Was bremst sie aus?

Auch wenn Brexit-Premier Boris Johnson durch seine widersprüchliche Corona-Politik aufgefallen ist: Natürlich ist es nicht das Anliegen der britischen Regierung, die Internetnutzer zu schulen, wie sie besser "Fake News" verbreiten. Im Gegenteil: Sie sollen gewissermaßen gegen diese Einflüsse "geimpft" werden.

Wie ein Virusgeschehen in der Medizin

Das Cambridge Social Decision-Making Lab, in dem das Spiel federführend entwickelt wurde, gehört zur Psychologie-Fakultät der britischen Elite-Uni. Hier erforscht man seit einigen Jahren, was "Fake News" eigentlich ausmacht und warum sie sich so stark verbreiten. Schon 2018 haben die Forscher in einer Studie die Pandemie der Falschinformationen und Verschwörungstheorien mit einem Virusgeschehen wie in der Medizin verglichen.

Falschinformationshappen verbreiten und reproduzieren sich ganz ähnlich wie ansteckende Krankheiten, fanden die Forscher heraus. Am Beispiel Klimawandel konnten sie nachweisen, wie das Vorhandensein "haftender" Falschinformationen den Einfluss simpler, "echter" Fakten fast vollständig neutralisiert.

97 Prozent aller Klimawissenschaftler sind sich darin einig, dass ein menschengemachter Klimawandel stattfindet. Dennoch ziehen Fake News wie beispielsweise über die "Oregon-Petition" aus den 90er-Jahren dies immer wieder in Zweifel. Doch als die Versuchspersonen vorgewarnt einer abgeschwächten Version der Unwahrheit ausgesetzt wurden, blieb die Wirkung der wissenschaftlichen Beweise erhalten – wenn die Unwahrheit zugleich präventiv mit ebenso oder noch stärker "haftenden" Faktenhappen entlarvt wurde.

Psychologische Antikörperbildung

Dabei an Impfung zu denken liegt auf der Hand. Als "psychologischen Impfstoff" haben die britischen Forscher ihre Methode daher schon lange vor Corona bezeichnet: Durch Kontakt mit einer abgeschwächten Dosis des "Virus" können "Antikörper" gebildet und das (psychische) Immunsystem resistent werden gegen künftige "Infektionen". Was medizinisch im menschlichen Körper funktioniert, hilft offenbar ähnlich, wenn es um Informationen und Einstellungen geht.

Denn hier ist das Problem: "Fake News können sich schneller verbreiten als die Wahrheit und sich zudem tiefer in uns einnisten", wie der Sozialpsychologe Sander van der Linden sagt, der das Projekt und das Social Decision-Making Lab in Cambridge leitet. Journalistische Faktenchecks seien zwar lobenswert und unerlässlich, aber sie kommen zu spät, so van der Linden: "Die Lügen haben sich da wie das Virus bereits verbreitet" – und wirken weiter.

In fünf Minuten ist man mit "Go Viral!" durch. Medienpädagogen mögen über das leicht durchschaubare Spiel müde lächeln. Zudem ist die Frage berechtigt, ob man mit Medienkompetenz allein zum Beispiel Antisemitismus und all den anderen Verschwörungsunsinn bekämpfen kann, der da so unterwegs ist.

Doch die Forscher haben das Spiel vor dem Start einer Teststudie unterzogen. Und deren im Journal of Experimental Psychology veröffentlichte Ergebnisse zeigen: Wer dieses (oder ein ähnliches) Spiel nur ein einziges Mal gespielt hat, ist für mindestens drei Monate signifikant weniger anfällig für Fehlinformationen.

Teilen zur Angstbewältigung

Es reicht offenbar aus, einmal grundsätzlich vor Augen geführt zu bekommen, wie emotional aufgeladene Sprache Empörung und Angst schürt, wie falsche Experten dabei helfen, Zweifel zu säen, und wie Verschwörungstheorien und Emotionalisierung in den Social Media Vorsprünge bei den Likes erzielen.

"Manchmal handeln Leute aus Angst und glauben, dass das Teilen von Beiträgen dabei hilft, ihre Liebsten zu beschützen", heißt es in dem Spiel, dessen ebenso simple wie schwierige Wahrheit so lautet: "Es ist gesund, skeptisch zu sein, aber im wirklichen Leben können viele Dinge auch nicht auf eine einfache Ursache reduziert werden."

Die britischen Forscher wollen mehr darüber herausfinden, wie Menschen widersprüchliche Informationssignale verarbeiten, wie die Betonung von Konsens Konflikte neutralisieren kann und wie Beweise in einer "postfaktischen" Gesellschaft überhaupt noch vermittelt werden können.

Angesichts der Erfolge von Trump, Erdogan, Putin und anderen Populisten scheint zu befürchten, dass der Kampf gegen das Postfaktische, die mediale "Post truth"-Welt, bereits verloren ist. Die US-Präsidentschaftswahlen haben es wieder vor Augen geführt: Der Streit der (politischen) Ideen hat sich – befeuert durch die Algorithmen der "sozialen" Medien – im letzten Jahrzehnt immer stärker abgekoppelt von Fakten und Tatsachen. Er findet zunehmend in medialen Filterblasen und Echokammern mit eigenen Wahrheiten und vor allem: Gefühlswelten statt.

Kein Recht auf eigene Fakten

Schon 2012 sah sich der Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo zur Klage genötigt: "Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber niemand hat das Recht auf eigene Fakten." Doch nackte Tatsachen sind politisch wertlos. Sie bedürfen der Interpretation, der Theorie, es braucht politische Ziele und Werte, damit faktisches Wissen zum nützlichen Werkzeug wird.

Obwohl die Digitalisierung mit dem demokratischen Versprechen antrat, dass sich in Zukunft alle am Diskurs beteiligen können, gibt es den "Diskurs im herrschaftsfreien Raum" (Jürgen Habermas) unter digitalen Bedingungen weniger denn je. Je mehr sich "gefühlte Wahrheit" aber von Tatsachen abkoppelt, desto mehr sind Wissenschaft und Demokratie im Kern bedroht, ja: das Projekt der Aufklärung als Ganzes.

Offensichtliche Bemühungen von Russland oder China, die US-Wahlen über die sozialen Medien zu manipulieren, scheint es dieses Mal – anders als vor vier Jahren – nicht gegeben zu haben. Vielleicht ist die Spaltung der US-Gesellschaft eh schon an einem Maximum angekommen.

Boris Johnsons sehr kleiner Kescher

Spät, sehr spät haben – angesichts der trumpistischen Lügenflut und in Angst nicht nur um die jüngsten US-Wahlen, sondern um die Demokratie überhaupt – die großen Social-Media-Plattformen Facebook und Twitter erst vor Kurzem begonnen, Fake News entschlossener entgegenzutreten. Falschbehauptungen wurden entfernt oder mit Warnhinweisen versehen – auch wenn sie vom US-Präsidenten kamen.

Doch den Forschern aus Cambridge zufolge ist der Schaden da bereits geschehen, weil die Lüge beim Empfänger bedauerlich trotzdem kleben bleibt.

Mit einem wirksamen Impfstoff in greifbarer Reichweite dürfte das Fake-News-Potenzial rund um Covid tendenziell eher wieder sinken. Es steckt eine gewisse Ironie darin, dass ausgerechnet die Regierung jenes Boris Johnson, der beim Brexit selbst immer wieder auf "Postfaktisches" und mediale "post truth"-Effekte gesetzt hat, jetzt versucht, mit dem sehr kleinen Kescher des "Go Viral!"-Spiels den bösen Geist wieder in die Flasche zu bekommen. Aber es kann auch nichts schaden.