"Ich möchte, dass der einzelne Mensch sich seiner Würde bewusst wird", sagt Jörg Amonat. Der 61-jährige Künstler sitzt in einem Café in Erlangen. Hinter ihm ist die für die Universitätsstadt charakteristische Hugenottenkirche zu sehen. Am Tisch neben ihm isst ein älteres Ehepaar mit erkennbar fränkischem Dialekt Kaffee und Kuchen, einen Platz weiter trifft sich eine arabisch sprechende Familie zum Tee. Ein junger Mann schiebt einen Kinderwagen durch die Fußgängerzone. Diese bunte Vielfalt der Stadtgesellschaft will Amonat in sein Kunstprojekt "Würdemenschen" miteinbeziehen, um gemeinsam über die Würde jedes Einzelnen nachzudenken.
Die Ergebnisse präsentiert Jörg Amonat in der Ausstellung "Würdemenschen" in Erlangen (23. Oktober bis 18. Dezember, Kreuz+Quer – Haus der Kirche Erlangen)
Das Thema "Würde" wird zum Stadtgespräch
Das Thema der Würde beschäftigt ihn schon einige Jahre, und so entstand ein Konzept, das er dann 2019 aus der Schublade holte und in Jena erstmalig realisierte. Denn dort schrieb Schiller einst den Essay "Über Anmut und Würde".
"226 Jahre Jahre später wollte ich wissen: Was haben die Menschen in Jena über ihre ‚Würde‘ zu sagen", erklärt er seine Motivation. Das Projekt entwickelte sich schnell zum Selbstläufer. Viele Vereine, Initiativen und Organisationen der Zivilgesellschaft kamen auf ihn zu, um gemeinsam darüber zu reflektieren. "In Jena, der Partnerstadt Erlangens, wurde so die Würde zum allgemeinen Stadtgespräch", fasst er das Ergebnis zusammen. Und er ist guter Dinge, dass dies ebenfalls in Erlangen der Fall sein wird.
Auch der Erlanger Oberbürgermeister ist dabei
Den zentralen Kern des Projekts stellen Einzel- und Gruppengespräche dar. Bis zu fünf Gesprächstermine hat Amonat am Tag, an denen er gemeinsam mit Schulklassen oder einzelnen Personen über Würde spricht. Etwa bei dem ambulanten Palliativ-Team der Kinderklinik Erlangen oder der Kontaktstelle für Arbeitslose. Weitere persönliche Kontakte knüpft er in der Queer-Gruppe einer Studentenverbindung oder bei Besuchen im Obdachlosentreff Willi. Auch Oberbürgermeister Dr. Florian Janik sowie alle vier Ehrenbürger*innnen Erlangens nehmen als besondere Würdenträger*innen an dem Projekt teil.
Wichtig sei ihm die persönliche Perspektive der einzelnen Personen, sagt Amonat. Dadurch werde ein abstrakter Satz wie "Die Würde des Menschen ist unantastbar" plötzlich fühlbar.
Beeindruckt habe ihn das Vertrauen, das ihm die Teilnehmenden entgegengebracht hätten. "Das Gegenteil von Würde sind oft Erfahrungen von Erniedrigung und Scham", berichtet er von den sehr persönlichen Gesprächen. Dabei sei es in den Menschen selbst zu einer Veränderung gekommen, die spürbar wurde, beschreibt der Künstler die Gesprächs-Atmosphäre.
Ziel dieser Reflexion sei, dass sich die Menschen ihre eigene Würde bewusst machten. Dass er damit einen Nerv getroffen habe, verdeutlicht er an den zahlreichen positiven Rückmeldungen. "Viele sagten, sie hätten noch nie so intensiv über die eigene Würde nachgedacht".
Der Mensch wird Gestalter seines eigenen Kunstwerks
Die Gespräche bilden die Grundlage für einen persönlichen Text sowie ein fotografisches Selbstbild, das die Person in Würde zeigt. Wie sehe ich mich selbst? Welche Kleidung, Gegenstände oder Symbole sagen etwas über mich als Person aus? Welche Körperhaltung oder Mimik nehme ich ein? Der Mensch wird Gestalter seines eigenen Kunstwerks.
"Die Würde jedes Einzelnen ist ein Gestaltungsprozess, eine Handlung, in die jeder aktiv eingreifen kann", sagt Amonat. Diese Anlehnung an die "Soziale Plastik" von Joseph Beuys dient der Bewusstseinsmachung. "Bin ich mir bewusst, dass ich eine unumstößliche Würde habe, trete ich vielleicht in manchen Situationen anders auf", erklärt er. Der Einzelne könne dadurch selbstbewusster handeln und so zwischenmenschliche Alltagsbegegnungen verändern.
"Das Projekt soll diese Gestaltbarkeit der Würde aufzeigen, indem ich sehe: Ich kann mein näheres Lebensumfeld positiv beeinflussen", bilanziert er. Langfristig könne die Entdeckung der eigenen Potentiale eine ganze Gesellschaft zum Besseren verändern, blickt Amonat in die Zukunft. Sinnbildlich sei hier der Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Orkan auslöse.
Interaktive Ausstellung
Die Texte und Fotografien, die aus den Gesprächen heraus entstehen, setzt der Künstler auf Tafeln zueinander in Beziehung. Diese bilden wiederum den Kern der Ausstellung, die am 23. Oktober 2021 im "Kreuz+Quer", dem Haus der Kirche in Erlangen, eröffnet wird. Zuvor, ab 3. Oktober, wird das Jenaer Würdemenschen-Projekt dort zu sehen sein.
Die Ausstellung selbst soll als weiterer Multiplikator dienen. Denn neben den 17 teilnehmenden Organisationen können nun die Impulse, über Würde nachzudenken, an die Besucher*innen selbst weitergegeben werden. "In Jena habe ich viele Menschen gesehen, wie sie sich vor den Tafeln stehend eigene Notizen gemacht haben", sagt Amonat. Ob auf handgeschriebenen Zetteln an einer Pinnwand, auf Podiumsdiskussionen oder per Kommentar in den sozialen Netzwerken – die Auseinandersetzung mit dem Selbstbild und dem eigenen Würdeverständnis solle interaktiv auf allen Ebenen erfolgen, wünscht er sich.
Grundschule greift das Projekt auf – und macht weiter
Dass diese Auseinandersetzung die Menschen bewegt, kann er aus eigener Erfahrung bestätigen. "Die Mitarbeitenden der Vereine und Organisationen in Jena und Erlangen waren begeistert und sprachen immer mehr Gruppen zum Mitmachen an", sagt der Künstler.
Besonders berührend sei die Reaktion in der Mönauschule in Büchenbach gewesen. Jedes Kind der 4. Klasse habe ihm am Ende des zweiwöchigen Workshops einen persönlichen Brief geschrieben, wie es die Woche erlebt und was es daraus mitgenommen hat. Die Erlanger Grundschule fand das Projekt sogar so toll, dass es hier 2022 ein Folgeprojekt geben wird. Das auf drei Monate angelegte Vorhaben wird sich mit der Würde der Schulgemeinschaft beschäftigen. Neben den Schüler*innen werden dann auch Lehrkräfte, Eltern, das Reinigungspersonal, der Hausmeister und weitere Beteiligte der kollektiven Würde-Frage künstlerisch nachgehen.