75 Jahre nach dem Holocaust gibt es in Deutschland wieder mehr antisemitische Straftaten. Nicht zuletzt der Anschlag auf die Synagoge in Halle macht deutlich, wie virulent und auch gewalttätig der Antisemitismus in Deutschland ist. Von vielen Seiten wird der Ruf nach schärferen Gesetzen laut. Der Regensburger Strafrechtler und Kriminologe Henning Ernst Müller hält wenig davon, wie er im Sonntagsblatt-Interview erklärt.
Herr Müller, unterscheidet das deutsche Recht zwischen antisemitischen und anderen Straftaten?
Henning Ernst Müller: Im Strafgesetzbuch gibt es einige wenige ganz konkrete Delikte wie die Leugnung des Holocaust, die aufgrund der deutschen Geschichte und der Tabuisierung bestimmter Äußerungen, im Gesetzestext konkret benannt sind. Ansonsten sind antisemitische Straftaten die, die auch bei jedem anderen Motiv eine Straftat wären, aber eben eine judenfeindliche Motivation haben. Also: Die Motivation macht die Straftat zu einer antisemitischen.
Mit welchen antisemitischen Straftaten haben die Gerichte in Deutschland zu tun?
Müller: Seit 1945 gibt es in Deutschland regelmäßig Schändungen jüdischer Friedhöfe, was sich darin äußert, dass Grabsteine umgestürzt, mit Hakenkreuzen beschmiert und judenfeindliche Sprüche darauf geschrieben werden. Das gibt es in einer zweistelligen Anzahl jedes Jahr in Deutschland. Dann gibt es Angriffe auf Synagogen und andere jüdische Einrichtungen. Bis hin zu solchen Angriffen und Anschlägen auf Menschen, die gerade in einer Synagoge sind - wie etwa in Halle. Solchen Taten liegen eindeutig antisemitische Motive zugrunde. Auch etwa bei Angriffen auf Personen, die sich durch jüdische Symbole zu erkennen geben, wie dem Tragen einer Kippa.
Antisemitische Vorurteile verstecken sich in Deutschland häufig hinter Israel-Kritik. Was sagt der Strafrechtler dazu?
Müller: In Deutschland ist es nach dem Holocaust tabuisiert, Juden zu kritisieren. Wir wissen, dass typische, klassisch-antisemitische Vorurteile deshalb nicht mehr offen ausgesprochen werden, sie sind aber bei etwa 20 Prozent der Bevölkerung verbreitet. Diese Kommunikationslatenz führt zum Phänomen der Umweg-Kommunikation. Man kritisiert den Staat Israel oder seine Politik, meint aber die Juden als Kollektiv. Natürlich ist nicht jede Kritik an der Politik Israels Antisemitismus. Man kann aber diese Verknüpfung durchaus daran erkennen, wenn praktisch doch wieder dieses kollektive Vorurteil generiert wird, etwa in der Behauptung: Die Juden oder Israelis verhalten sich gegenüber den Palästinensern wie früher die Nazis.
In München wurde eine Pegida-Demonstration gegen jüdische Beschneidungen genehmigt. Wie viel Raum dürfen potenzielle Brandstifter erhalten?
Müller: Wir sind eine demokratische und offene, meinungsfreie Gesellschaft; Demonstrationen müssen nicht genehmigt werden. Ich hielte es zwar in diesem Kontext, vor dem Hintergrund der Geschichte, durchaus für legitim, dass man die Grenzen bei Antisemitismus enger setzt. Man darf und sollte aber an diesem Punkt dem politischen Gegner keine Fesseln anlegen. Das könnte auch wieder dazu führen, dass gesagt wird, die Juden stecken dahinter. Wobei sich das Beschneidungsthema wie der Palästina-Konflikt sehr gut zur angesprochenen Umweg-Kommunikation eignen.
Befürworten Sie eine Verschärfung des Strafrechts?
Müller: Ich bin jemand, der sehr, sehr skeptisch ist, ob schärfere Strafgesetze tatsächlich etwas bewirken. Es gibt aber in vielen Bereichen ein Defizit in der Durchsetzung. Wenn man die schon bestehenden Gesetze konsequenter anwenden würde, dann würde das, was man mit der Verschärfung hinbekommen möchte, schon zu einem großen Teil erledigt sein. Jetzt schon möglich wäre es, dass man Hasskriminalität und Hassmotivation entsprechend anspricht, indem man in der Strafzumessung Antisemitismus symbolisch herausstellt. Antisemitismus ist nicht dasselbe wie Hassbotschaften gegen andere Kollektive, er hat einen anderen, in Deutschland besonders zu beachtenden, geschichtlichen Hintergrund.
Auch in Internetforen und Social-Media-Netzwerken findet sich immer mehr Judenhass. Wie soll damit umgegangen werden?
Müller: Was früher nur am Stammtisch unter fünf Leuten verbreitet wurde, wenn man über Fremde, Juden, Frauen und Homosexuelle herzog, das kann man jetzt erledigen, in dem man versteckt hinter seinem Computer und Smartphone Hassbotschaften in die Welt hinausposaunt und damit andere animiert, das Gleiche zu tun. Aber wenn man das alles kontrollieren und überwachen würde, bedeutete das, dass alle anderen Nutzer auch überwacht und kontrolliert würden.
Worin unterscheiden sich antisemitische Hassbotschaften von anderen?
Müller: Das ist diese ganz spezielle Irrationalität an sich, die andere Hassbotschaften nicht auszeichnet. Man kann zwar nicht sagen, dass alle, die Judenhass verbreiten, einen Psychoknacks haben. Aber die rationale Erklärung ist äußerst schwierig. Manche Erklärungsversuche laufen auf so eine Art Täter-Opfer-Umkehr hinaus: "Die Juden sind selber schuld." Die Geschichte zeigt aber, dass das überhaupt nicht zutrifft. Juden können sich verhalten wie sie wollen, der Antisemitismus sucht sich immer neue Begründungen. Wobei es gerade die irrationale Zuschreibung angeblich gemeinsamer Charakterzüge oder Eigenschaften ist, die den Antisemitismus ausmacht. Ich kenne keine Eigenschaften, die die Juden als Kollektiv an sich haben.
Wie viele antisemitische Straftaten gibt es pro Jahr in Deutschland?
Müller: Es werden jedes Jahr zwischen 1.200 und 1.800 antisemitische Straftaten in Deutschland statistisch erfasst. In diesem Rahmen hat es sich die vergangenen 20 Jahre bewegt. Im Jahr 2018 war die Zahl besonders hoch, knapp 1.800. Darunter fallen auch weit über 1.000 Propagandadelikte, wie volksverhetzende Äußerungen, oder auch die Schändung von Friedhöfen. Aber es gibt ein riesiges Dunkelfeld. Wenn jüdische Personen befragt werden, dann schildern diese vermehrt, dass es Angriffe auf der Straße gegeben habe. Nur etwa ein Viertel davon wird angezeigt
Und wie oft werden Gewalttaten begangen?
Müller: Bei Gewaltakten sind wir statistisch bei einer zweistelligen Zahl pro Jahr. Aber auch das schwankt stark, zwischen 30 und 70 in den vergangenen Jahren. Auch das sind nur die bekanntgewordenen Fälle, bei denen sich das antisemitische Motiv eruieren ließ. Die tatsächliche Zahl kann viel größer sein.