Corona, Ukraine-Krieg, Inflation und steigende Energiekosten: Durch die vielfachen Krisen steigen die sozialen Spannungen, die Gesellschaft klafft immer weiter auseinander. Wie nimmt das eine Sozialministerin wahr und was macht Bayern bei der Lösung der Probleme besser als Berlin?

Ulrike Scharf: Wir leben in einer unglaublich schwierigen Zeit, mit viel Verunsicherung – aber auch mit viel Polarisierung. Ich nehme dem Bundeswirtschaftsminister und auch dem Kanzler wirklich übel, dass sie den Menschen Angst machen mit Szenarien wie – jetzt müsse man kalt duschen und dürfe die Wohnung nicht mehr richtig heizen.

Und die Weihnachtsbeleuchtung soll auch aus bleiben?

ür mich ist Licht ein Zeichen für Hoffnung. Ich komme ja aus dem Wallfahrtsort Maria Thalheim im Landkreis Erding. Bis vor kurzem war meine Wallfahrtskirche bis 23 Uhr angestrahlt. Jetzt ist das Licht viel früher aus. Das kann ich durchaus nachvollziehen. Ich gehe aber nicht davon aus, dass die Weihnachtsbeleuchtung komplett aus bleiben wird. Zeitliche Beschränkungen sind sinnvoll – und natürlich der Umstieg auf energiesparende LED-Leuchten. Statt Panik zu verbreiten sollten wir besser das Gefühl geben, dass die politischen Vertreterinnen und Vertreter da sind, um Probleme zu lösen.

"Für mich ist vollkommen klar, dass in dieser Krise den Menschen durch staatliches Handeln geholfen werden muss."

Reicht da mehr Zuversicht alleine aus? Sie vermitteln den Eindruck, so schlimm wird's schon nicht kommen.

Die Lage ist schwierig. Das macht den Menschen Sorgen und teilweise auch Angst. Für mich ist vollkommen klar, dass in dieser Krise den Menschen durch staatliches Handeln geholfen werden muss. Das war auch in der Corona-Krise richtig. Bayern hat damals viele Landesmittel dafür bereitgestellt: Ein Härtefall-Fonds, Bürgschaften und Direkthilfen haben Unternehmen, Bürgerinnen und Bürgern in der Krise geholfen.

Nun hat die Ampel-Koalition einen "Doppel-Wumms" im Umfang von 200 Milliarden beschlossen.

In einer so ernsten Lage finde ich schon mal diese Begrifflichkeiten fast unerträglich. So was mit "Wumms" zu bezeichnen, ist sprachlich nicht in Ordnung. Auch deshalb, weil die Umsetzung völlig unklar ist. Frankreich hat seit März einen Energiepreis-Deckel. Wir haben jetzt Ende Oktober und wissen immer noch nicht, wann was kommt. Da wird das Pferd von hinten aufgezäumt. Eine große Summe ins Schaufenster zu stellen hilft keinem, entscheidend ist doch was am Ende raus kommt.

Noch weniger wissen derzeit diakonische Einrichtungen wie Pflegeheime, wie sie die steigenden Heizkosten stemmen sollen. Da war von ihnen bisher nur zu hören, da sei der Bund zuständig.

Zunächst ist tatsächlich der Bund gefordert: Wem gibt er jetzt wieviel Geld, wo fließen die 200 Milliarden hin? Wenn das klar ist, können wir ergänzend eingreifen. Das ist die ganz klare Vorgehensweise, um Doppelungen zu vermeiden. Aber natürlich schauen wir uns jetzt schon Strukturen genau an und beobachten, wo es zu Ausfällen kommen kann. Nehmen wir einmal eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Die ist auf eine Wäscherei angewiesen, die meist outgesourct ist. Wenn die wegbricht, kann die Einrichtung bald schließen. Auch Frauenhäuser, Beratungseinrichtungen oder Mütter-Zentren sind von einer funktionierenden mittelständischen Wirtschaft abhängig. Wir haben da eine Vielfalt an Strukturen, die uns nicht wegbrechen darf. Wir nehmen in Bayern Geld in die Hand, damit dies nicht passiert und wir werden auch Geld für den Erhalt der sozialen Strukturen geben – in enger Abstimmung mit der bayerischen Wohlfahrtspflege.

"Dass die Rentnerinnen und Rentner bei den ersten zwei Paketen vergessen worden sind, ist ein Skandal."

Schauen wir auf den einzelnen Bürger: Ist es gerecht, nun pauschal alle mit 300 Euro zu entlasten? Hätte man da nicht staffeln müssen?

Dass die Rentnerinnen und Rentner bei den ersten zwei Paketen vergessen worden sind, ist ein Skandal. Genauso wie Auszubildende und Studierende. Das ist einfach nicht in Ordnung. Wir haben das mehrfach angemahnt, und daraufhin kam ja auch Bewegung rein. Eine Staffelung wäre in der Sache zwar richtig, allerdings mit einem riesigen bürokratischen Aufwand verbunden. Jetzt ist aber schnelle Hilfe notwendig.

Sie sprechen gerne vom Familienland Bayern. Wie divers definieren Sie den Begriff Familie heute? Hat sich da etwas geändert?

Jeder soll in Bayern leben können, ohne beleidigt oder beschimpft zu werden und ohne Angst vor Gewalt haben zu müssen. Deshalb ist es mir wichtig, dass wir hier ein gutes Klima schaffen, in dem die Menschen ihr selbstbestimmtes Leben sorgenfrei gestalten können, in dem sie frei und unbeschwert so leben können, wie sie wollen. Natürlich verändert sich die Gesellschaft. Für uns ist es heute normal, dass es auch gleichgeschlechtliche Eltern gibt, die sich um Kinder kümmern. Wo Menschen für andere Menschen Verantwortung übernehmen, ist Familie. Ich selbst bin in einer Großfamilie aufgewachsen und sehe es als unglaubliche Leistung, wenn jemand auch für die Eltern und Großeltern, die pflegebedürftig sind, Verantwortung übernimmt.

Ulrike Scharf am Tisch mit einem Mikrofon
Ulrike Scharf beim EPV-Redaktionsgespräch. Seit Februar 2022 ist die Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales.

Am 1. Januar soll das Bürgergeld kommen. Hartz-IV-Empfänger sollen 502 Euro statt 449 Euro bekommen. Es entlastet also einkommensschwache Menschen. Trotzdem sind Sie vehement dagegen. Warum eigentlich?

Der Begriff Bürgergeld klingt gut und hört sich fein an. Ich habe auch im Grunde nichts gegen einen neuen Namen und dass man sich über Förderstrukturen und Sozialleistungen noch einmal neu Gedanken macht. Es ist auch nachvollziehbar, dass es eine Erhöhung vom Hartz-IV-Regelsatz geben soll. Was am Bürgergeld an Gutem drinsteht, ist die weitere Unterstützungen bei Fort- und Weiterbildung. Lebenslanges Lernen ist für uns alle unerlässlich.

Aber?

So wie das vom Bundestag beschlossen werden soll, darf man es nicht machen. Ich halte das Signal, das dieses Gesetz aussendet, für grundlegend falsch: 'Du brauchst dich eigentlich nicht mehr anstrengen, brauchst nicht arbeiten gehen. Das künftige Bürgergeld sorgt für dich.' Der finanzielle Abstand zu denen, die jeden Morgen aufstehen, arbeiten, Geld verdienen und Steuern zahlen wird so gering, dass sich Arbeit oft nicht mehr lohnt. Das Prinzip "fordern und fördern" wird damit auch komplett ausgehebelt.

Forderungen wird es auch weiterhin geben, auch Sanktionen.

Ja, aber die Sanktionsmöglichkeiten werden für die ersten sechs Monate ausgesetzt. Wenn Sie heute Arbeitslosengeld beantragen, kann Ihnen das Jobcenter eine zumutbare Arbeit anbieten. Lehnen Sie ab, können die Bezüge gekürzt werden. Künftig kann man eine zumutbare Arbeit ablehnen, sagen: 'Nein, diesen Job will ich nicht, und den anderen Job will ich auch nicht.' Und es passiert nichts. Keinerlei Sanktionen im Fall der Arbeitsverweigerung, ein halbes Jahr lang. Außerdem sieht das Bürgergeld vor, dass für die ersten zwei Jahre ein Vermögen von bis zu 60.000 Euro bei Alleinlebenden und das Wohneigentum nicht in die Rechnung einbezogen wird. Da ist es doch verlockend, das Bürgergeld zu beziehen und zuhause zu bleiben.

"Ich bin zutiefst überzeugt, dass unser Sozialstaat stark ist und dass er jedem helfen kann, der Hilfe braucht."

Welche Konsequenzen fürchten Sie durch das Bürgergeld?

Ich bin zutiefst überzeugt, dass unser Sozialstaat stark ist und dass er jedem helfen kann, der Hilfe braucht. Aber es muss auf der anderen Seite auch jemand das Geld verdienen und Steuern zahlen, dass wir sozial überhaupt stark sein können. Wenn die Jobcenter keine Möglichkeit mehr zu Sanktionen haben, geht der Grundpfeiler 'fördern und fordern' verloren. Wichtig ist mir dabei: Wir reden nur von denjenigen, die arbeitsfähig und gesund sind. Natürlich gibt es auch Menschen, die nicht oder nicht mehr arbeiten können.

Sie sehen das Bürgergeld als Vorstufe zu einem bedingungslosen Grundeinkommen. Warum?

Unser Sozialstaat funktioniert nur, wenn wir eine stabile Wirtschaft haben und wenn es Menschen gibt, die Steuern zahlen. Wenn wir jetzt alle daheimbleiben, nicht mehr arbeiten und keine Steuern mehr zahlen, funktioniert unser System nicht mehr. Ich bin eine Verfechterin der sozialen Marktwirtschaft, das ist eine Erfolgsgeschichte der letzten 70 Jahre. Zu deren Grundprinzipien gehört, dass wir sozial nur stark sind, wenn wir wirtschaftlich erfolgreich sind. Die Sozialleistungen in Deutschland steigen kontinuierlich an, das muss am Ende auch erwirtschaftet werden.

"Arbeit ist mehr als nur Geld verdienen."

Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens sehen darin eine Möglichkeit für die freie Entfaltung des Individuums…

Ich bin überzeugt, dass Arbeit viel mehr ist, als einfach nur eine Tätigkeit zu verrichten. Wer arbeitet, bewegt sich in einem sozialen Umfeld, er hat soziale Kontakte. Gerade in sozialen Berufen finden Menschen Erfüllung und Sinnstiftung. Darum ist Arbeit einfach mehr als nur Geld verdienen..

Ein großer Kritikpunkt an Hartz IV war ja, dass durch die strengen Kontrollen Menschen in die Enge getrieben werden und psychisch krank werden. Zum Beispiel jemand, der mit über 60 seinen Job verloren hat, noch nicht Rente gehen kann und auch keine wirkliche Aussicht auf eine neue Stelle hat.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jobcenter haben das ganz klare Ziel, Menschen in Arbeit zu bringen. Ich habe noch keinen oder keine getroffen, die arbeitslos gemeldete Menschen traktieren, bis diese psychisch krank werden. Aber der oder die Betroffene muss auch bereit sein, Arbeit aufzunehmen und sich bemühen, in Arbeit zu kommen. Und diejenigen, die vermitteln, müssen das auch auf vernünftige Art und Weise tun. Das ist ein Zusammenspiel von allen. Aber jetzt das Signal an Betroffene auszusenden, dass nichts passiert, wenn man einen Vermittlungsvorschlag nicht annimmt, das ist grundfalsch.

Haben Sie da Verbündete außerhalb der Union?

In diesem Zusammenhang laufen viele Gespräche. Ich hoffe, dass Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hier einlenkt. Sein Ministerium kennt die Kritikpunkte.

Die CSU, der Sie angehören, hat ja nach wie vor immer das große Thema mit der Frauenquote. Sie selbst haben einmal einen langjährigen Landtagsabgeordneten herausgefordert und ihm in einer Kampfkandidatur das Direktmandat abgenommen. Trauen Sie sich, gegen Männer anzutreten oder war das eine Ausnahme?

Die Hälfte der Menschen in Bayern ist weiblich, in der CSU-Landtagsfraktion sind nur 22 Prozent Frauen vertreten. Das ist zu wenig. Als Vorsitzende der Frauen-Union Bayern ist es jeden Tag mein Auftrag, Frauen zu unterstützen, Frauen zu fördern und alles dafür zu tun, dass wir uns zutrauen, eine Kandidatur – auch eine Kampfkandidatur – anzugehen, als Bürgermeisterin, Landrätin, Stadträtin, Kreisrätin.

Woran hakt es?

Für die CSU ist das sicherlich historisch bedingt. Sie war immer eine Männerpartei und Frauen sind erst mit der Zeit dazu gekommen. Seit über zehn Jahren haben wir nun eine Quote im Vorstand auf der Landesebene und der Bezirksebene. Wir haben viele Frauen in der Verantwortung, zum Beispiel unsere Landtagspräsidentin. Bis zur letzten Umbildung war auch das Kabinett paritätisch besetzt. Die Frauen-Union hat ein Mentoring-Programm, in dem wir interessierte junge Frauen zusammen mit erfahrenen Berufspolitikerinnen – und im Übrigen auch mit Politikern – zusammenspannen, um einen Einblick in den politischen Alltag zu gewähren. Was heißt es beispielsweise, Bürgermeisterin zu werden oder zu sein?

Wäre es ein starkes Signal, wenn auch mal eine Frau an die Spitze käme? Sie haben ja gesagt, Bayern wäre reif für eine Ministerpräsidentin.

Das habe ich in einem anderen Zusammenhang gesagt. Als ich diese Antwort gegeben habe, war sie mit der Frage verknüpft: Kann das auch eine Frau machen? Selbstverständlich kann das eine Frau. Diese Frage nach einer Person oder Persönlichkeit stellt sich im Moment nicht.

"Sie haben als Frau im Bierzelt einfach schlechtere Karten."

Wo haben es die Frauen noch schwer in der Politik?

Wir kommen jetzt im Wahlkampf wieder zu diesem wunderbaren Format der Bierzeltreden. Sie haben als Frau im Bierzelt einfach schlechtere Karten. Selbst mit der besten Tonanlage haben Sie als Frau eine Stimmlage, die einfach nicht durchdringt. Und es ist auch nicht sehr passend für Frauen, dass man brüllt, laut reinschreit und womöglich noch mit dem Vorschlaghammer auf den Tisch klopft.

Sie sind auch in der Kirche engagiert. Was motiviert Sie?

Das Engagement in der Kirche, für unsere Gemeinde, für unseren Gemeinsinn liegt mir am Herzen. Deswegen bin ich seit vielen Jahren Mitglied des Diözesanrats der Erzdiözese für München und Freising. Ich bin ein gläubiger Mensch. Für mich ist der Glaube eine Frage der Orientierung und der Kraftquelle. Mich erschüttert zutiefst, was sich unter dem Stichwort Missbrauch in den Kirchen abspielt. Diese Dinge müssen aufgearbeitet werden.

"Die Werte und Tugenden, die das Christliche mit auf den Weg bringen, sollten wir in unseren politischen Entscheidungen viel öfter einbeziehen."

Treten Sie dafür ein, das "C" in der CSU zu stärken?

Ja, absolut. Christlich ist unsere Überzeugung und unsere DNA. Die Werte und Tugenden, die das Christliche mit auf den Weg bringen, sollten wir in unseren politischen Entscheidungen viel öfter einbeziehen.

Barbara Stamm handelte aus dieser Motivation. War sie Ihnen ein Vorbild?

Barbara Stamm prägte die CSU. Solange ich dabei bin, war sie in verantwortlichen Positionen. Für mich ist sie ein großes Vorbild, weil sie es geschafft hat, als Frau aufgrund ihrer Kompetenz, ihrer Erfahrung und ihrer Grundhaltungen eine solch starke Stimme zu haben.

Wie fühlt es sich für Sie an, jetzt quasi Ihr Ministerium übernommen zu haben?

Ich war keine drei Wochen im Amt, da kam Barbara Stamm zum Antrittsbesuch. Was sie als Sozialministerin an Weichen gestellt hat, ist für mich immer wieder ein Auftrag, daran weiterzubauen und weiterzuarbeiten. Aber natürlich gab es auch Diskussionen. Als ich mich als Umweltministerin für einen dritten Nationalpark in Bayern stark gemacht habe, war sie ganz anderer Meinung.