Annemarie Renger: In aller Kürze

Annemarie Renger wird am 7. Oktober 1919 als Annemarie Wildung in Leipzig geboren. Als sie fünf Jahre alt ist, zieht die Familie nach Berlin. Ihr Vater Fritz ist ein SPD-Politiker, der in der Nazizeit verfolgt wurde. Die Tochter muss das Mädchengymnasium verlassen, nachdem ihr wegen des politischen Engagements ihres Vaters das Schulstipendium gestrichen worden ist. Annemarie beginnt eine Lehre in einem Verlag, wo sie ihren ersten Mann Emil Renger kennenlernt. Kurz vor Kriegsende, im Frühjahr 1945, flüchtet sie mit ihrer Schwester und ihrem Sohn in die Lüneburger Heide. Kurz darauf lernt sie in Hannover den späteren SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher kennen, dessen Privatsekretärin und Lebensgefährtin sie wird. 1945 wird Annemarie Renger SPD-Mitglied und 1953 in den Bundestag gewählt. 1972 wird sie Bundestagspräsidentin – als erste Frau und erste Sozialdemokratin. Das Amt hat sie bis 1976 inne, danach ist sie bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Parlament 1990 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags. 1979 kandidiert sie für die SPD bei der Wahl des Bundespräsidenten, unterliegt aber Karl Carstens von der CDU. Annemarie Renger stirbt am 3. März 2008 in Remagen-Oberwinter.

 

In die Geschichtsbücher schafft man es nicht durch artige Zurückhaltung – als Frau schon gar nicht. Dies zumindest zeigt das Beispiel von Annemarie Renger. Die SPD-Politikerin übte als erste Frau das nach dem Bundespräsidenten zweithöchste Amt in Deutschland aus – das der Bundestagspräsidentin.

Am 13. Dezember 1972 wurde sie von den Abgeordneten in dieses hohe Amt gewählt. Damit war sie weltweit die erste Frau an der Spitze eines Parlaments. 

Dass sie dafür überhaupt in Betracht gezogen worden war, verdankte sie vor allem sich selbst, ihrem Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen.

Annemarie Rengers Aufstieg zur Bundestagspräsidentin

Nachdem die SPD bei der Bundestagswahl im Herbst 1972 stärkste Fraktion geworden war, stand fest, dass erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ein SPD-Abgeordneter oder eine SPD-Abgeordnete dem Parlament vorstehen wird. Annemarie Renger brachte ihren Namen ins Spiel. Sie habe sich der Fraktion unter Führung des legendären Herbert Wehner selbst vorgeschlagen, erinnerte sie sich später und schob die rhetorische Frage hinterher: 

Glauben Sie, man hätte mich sonst genommen?

Annemarie Renger

Wobei die damals 53-Jährige kein unbeschriebenes Blatt war: Zu dem Zeitpunkt, 1972, war die Sozialdemokratin bereits seit fast 20 Jahren Abgeordnete im Bundestag – und sollte es danach noch 18 weitere Jahre sein. Bei der Wahl 1990 kandidierte sie nicht mehr und beendete mit 71 Jahren ihre beispiellose parlamentarische Karriere.

Annemarie Renger wächst in einer sozialdemokratischen Familie auf

Annemarie Renger war eine Vollblut-Sozialdemokratin, das hatte in ihrer Familie Tradition. Ihr Großvater und Vater waren in der SPD aktiv. Ab 1908 durften auch Frauen Mitglied der Partei werden – was ihre Mutter Martha auf der Stelle tat. Ihr Vater Fritz war SPD-Stadtrat in Leipzig, engagierte sich für den Arbeitersport und war später Generalsekretär in dessen Dachverband. Das war auch der Grund dafür, dass die Familie von Leipzig nach Berlin zog, als die jüngste Tochter Annemarie fünf Jahre alt war. 

"Wir waren wirklich eine ganz politische, eine sozialdemokratische Familie", sagte Annemarie Renger später einmal in einem Interview. "Mir wurde das politische Gespräch zu Hause quasi schon in die Wiege gelegt. Das hat dazu geführt, dass ich dann in der Politik auch immer recht gut Bescheid wusste."

Die Kindheit und Jugend von Annemarie Renger, die damals noch Wildung hieß, war geprägt vom Arbeitersportverein und den Kinder- und Jugendverbänden der Sozialdemokratischen Partei. Mit zehn Jahren kam sie auf ein Mädchengymnasium und wurde dort nach ihrem Berufswunsch gefragt. Ihre Antwort: "Selbstverständlich Parteisekretärin!"

Annemarie Renger: Privatsekretärin Kurt Schumachers

Und diesen Kindheitstraum verwirklichte sie tatsächlich Jahre später, nach dem Zweiten Weltkrieg. Annemarie Renger, deren erster Mann als Soldat im Krieg gefallen war, flüchtete kurz vor Kriegsende 1945 aus dem ausgebombten Berlin in die Lüneburger Heide, die Heimat ihres Vaters. Dort las sie zufällig in einer Zeitung einen Artikel über eine Rede von Kurt Schumacher, dem einstigen SPD-Abgeordneten im Reichstag, den die Nazis fast zehn Jahre lang in Konzentrationslagern gefangen gehalten hatten und der sofort nach Kriegsende mit dem Wiederaufbau der SPD begann: "Ich fand darin Sätze, bei denen ich mir gesagt habe: Das ist der richtige Mann, das ist der Mensch, den es jetzt braucht", erzählte sie später. 

Auch hier ergriff Annemarie Renger von sich aus die Initiative: Die 25-Jährige schrieb dem 50 Jahre alten Mann – im Nachkriegsdeutschland die wichtigste SPD-Führungsfigur – einen Brief und fragte ihn einfach, ob sie nicht für ihn arbeiten könne.

Kurt Schumacher antwortete, Annemarie Renger fuhr zu ihm nach Hannover und wurde dessen Privatsekretärin. 1946 wurde Schumacher SPD-Parteichef, Annemarie Renger Leiterin im Büro des SPD-Parteivorstands. Drei Jahre später zog Schumacher als Abgeordneter in den Bundestag in Bonn ein. Stets als engste Mitarbeiterin und bis zu seinem Tod 1952 an seiner Seite: Annemarie Renger.

Die "Grande Dame" im Bundestag

1953 wurde sie selbst zum ersten Mal in den Bundestag gewählt und gehörte dem konservativen Flügel der Fraktion an. Innerhalb der SPD zählte die häufig als "Grande Dame" bezeichnete Politikerin mit dem Faible für schnittige Sportwagen zum Spitzenpersonal. Sie war zeitweise Mitglied im SPD-Bundesvorstand und -Präsidium, Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, Bundestagspräsidentin bis 1976 und anschließend 14 Jahre lang Vizepräsidentin des Bundestags.

1979 nahm Annemarie Renger das höchste Amt der Bundesrepublik ins Visier: Als Kandidatin der SPD trat sie bei der Wahl des Bundespräsidenten an – unterlag aber Karl Carstens von der CDU.

Was von ihrer historischen Amtszeit als Bundestagspräsidentin bleibt? Ihre persönliche Bilanz brachte Annemarie Renger einmal so auf den Punkt: "Es ist bewiesen, dass eine Frau das kann!"

 

"Rebellinnen": Die Ausstellung über starke Frauen

Dieser Text ist Teil der Wanderausstellung "Rebellinnen". Sie stellt Frauen aus dem deutschsprachigen Raum vor, die für ihre Überzeugungen und Rechte kämpften, die Gesellschaft prägten, sie verändern wollten.

Als Medienpartner von "Rebellinnen" veröffentlicht sonntagsblatt.de Porträts und weiterführende Informationen zu allen Frauen, die in der Ausstellung gezeigt werden.

Sie haben Interesse daran, die Ausstellung zu besuchen oder auszuleihen? Auf ausstellung-leihen.de finden Sie künftige Termine sowie die Online-Buchung.