Eines der schwersten Kreuze in bayerischen Behörden hängt in Nürnberg. Aber wie kam es dahin?

Rund 100.000 Menschen besuchen jährlich den Ort der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Der Schwurgerichtsaal 600 im Justizpalast ist der berühmteste Gerichtssaal der Welt. Millionen im In- und Ausland kennen ihn, die Bilder von Hermann Göring und den anderen Nazis auf der Anklagebank werden bis heute immer wieder im Fernsehen gezeigt.

1945 hatten die Alliierten den Saal für ihre Zwecke umgebaut. 1961 bauten ihn die bayrischen Behörden wieder zurück, in den Originalzustand vor den Kriegsverbrecherprozessen, wie es hieß. An einer Stelle freilich weicht er erkennbar von dieser Originalausstattung ab: Direkt über der Richterbank, wo einst ein Bild des bayerischen Prinzregenten angebracht war, hängt nun ein auffällig großes Kreuz.

Kreuz im Nürnberger Schwurgerichtssaal 600 wiegt vier Zentner

Es hat gigantische Ausmaße: 2,22 Meter hoch, vier Zentner schwer, aus dunkler Bronze gefertigt und mit dem Korpus des Gekreuzigten. Nirgendwo in einem deutschen Gerichtssaal gibt es Vergleichbares.

Fast alle Besucher wollen wissen, was es damit auf sich hat. "Jeder fragt", sagt Volker Dieckmann, der seit acht Jahren die Aufsicht im Saal 600 hat. Allein eine ergiebige Antwort bekommen sie darauf nicht.

Was hat der frühere Gerichtspräsident Theodor Hauth mit dem Kreuz zu tun?

Bis heute sind die Umstände nicht ganz geklärt, unter denen das Kreuz dort 1962 angebracht wurde. Fest steht nur, dass es die Alliierten nicht waren. Bei ihnen stand eine Leinwand an jener Stelle, auf der sie den Angeklagten Filme aus den Konzentrationslagern zeigten. Es waren die ersten Bilder dieser Art, die öffentlich wurden. Zwölf der 24 Hauptangeklagten wurden zum Tode verurteilt, der Gerichtssaal bis 1961 vom amerikanischen Militär genutzt.

Als er an die bayerische Justiz zurückging, versuchte die, Spuren zu beseitigen. An das Dritte Reich wollte keiner erinnert werden und an die Nürnberger Prozesse auch nicht. Der, der besonders engagiert an der Löschung der NS-Vergangenheit mitwirkte, war Gerichtspräsident Theodor Hauth.

Schon die Ernennung des fanatischen Katholiken hatte 1959 im protestantisch geprägten Nürnberg für Kritik gesorgt. Vor Studenten hatte Hauth Mitte der Fünfzigerjahre gefordert: "Wir brauchen mehr katholische Richter, weil die Ehescheidung eine Frage der Weltanschauung ist und katholische Studienräte, weil sie unsere Kinder erziehen sollen ..."

 

Video über den Nürnberger Schwurgerichtssaal 600 - Orginalschauplatz der Nürnberger Prozesse: Vom 20. November 1945 bis 1. Oktober 1946 mussten sich hier führende Vertreter des nationalsozialistischen Regimes vor einem internationalen Gericht für ihre Taten verantworten.

"Der Sieg des Kreuzes über das Hakenkreuz"

In Hauths Amtszeit fällt auch eine Kampagne der katholischen Kirche in Nürnberg, in der die Umwandlung eines Turms auf dem NS-Reichsparteitagsgelände in einen Kirchturm gefordert wird. Motto: "Der Sieg des Kreuzes über das Hakenkreuz". Das Vorhaben scheiterte. Also wurde Hauth da aktiv, wo er das alleinige Sagen hatte: im Justizpalast in der Fürther Straße.

Dort nimmt er den Umbau des Saals 600 zum Anlass, ein Zeichen zu setzen: just an jener Stelle, an der vor den Kriegsverbrecherprozessen ein Bild Hitlers hing. Das Kreuz verdrängt das Hakenkreuz: In seinem eigenen Wirkungsbereich scheint Hauth das verwirklicht zu haben, was ihm öffentlich verwehrt geblieben war. Das zumindest legen die Begleitumstände nahe, eine genaue Erforschung des Themas seitens der Historiker hat es bisher allerdings nicht gegeben.

Hauth sah Kreuz als Schlussstrich unter die Vergangenheit

Kein Nürnberger Richter hat sich zugleich der Vergangenheitsbewältigung so sehr widersetzt wie Theodor Hauth. Brüsk lehnte er etwa eine Anfrage des italienischen Fernsehens ab, die am Originalschauplatz der Nürnberger Prozesse einen Dokumentarfilm geplant hatten. Mehrere Hundert Menschen pro Jahr wollten auch in den 1960er-Jahren den Saal 600 besichtigen. Es waren zumeist interessierte Ausländer, vor allem Amerikaner. Hauth erteilte ihnen allen eine Absage, erklärte die Besuchsgenehmigung fortan zur Chefsache. Bis zu seinem Ausscheiden 1969 bekamen den Schwurgerichtssaal folglich nur Teilnehmer von Gerichtsverhandlungen zu sehen.

Für Hauth markierte das Kreuz im Gerichtssaal einen Schlussstrich unter die Vergangenheit. Kurz und knapp vermeldete die Lokalzeitung am 15. Oktober 1962: "Im neu gestalteten Schwurgerichtssaal wurde ein großes metallenes Kruzifix angebracht. Es hat ein Gewicht von vier Zentnern." Kein Wort über Hintergrund, Auftraggeber und Bedeutung.

Kreuz im Gerichtssaal irritiert Besucher aus aller Welt

In den 1970ern setzte allmählich eine Bewusstseinswende ein. Nun wurde der Saal sporadisch auch für historisch Interessierte geöffnet. In den 1980ern fanden dort erste Kongresse zum Thema Nürnberger Prozesse statt, ab dem Frühjahr 2000 an den Wochenenden regelmäßige Geschichtsführungen.

Im Herbst 2010 schließlich wird im Justizpalast ein Museum eröffnet. Das "Memorium Nürnberger Prozesse" lockt jährlich viele Tausend Besucher an. 70 Prozent von ihnen kommen aus dem Ausland, "es ist das internationalste Museum, das wir in Nürnberg haben", sagt der Historiker Andreas Mix, der seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter ist.

Über das riesige Kreuz im Gerichtsaal hat er sich selbst gewundert. An seiner früheren Wirkungsstätte Berlin "einfach undenkbar", wie er sagt. Das Kreuz irritiert auch Besucher. Immerhin finden hier ja noch Verhandlungen statt. "Habt ihr keine Trennung von Kirche und Staat?", wollen viele wissen. Selbst der Sicherheitsdienst um Ugur Karali wird regelmäßig mit Fragen gelöchert.

Kreuz kann nur zugehängt, nicht abgehängt werden

Bei manchen Führungen lautet die leicht scherzhafte Erklärung: "Wir sind halt in Bayern." Tatsache ist allerdings, dass im Falle eines Falles das Kreuz zugehängt werden muss, wenn es die Umstände eines Prozesses erfordern. Abhängen kommt bei zwei Metern und vier Zentnern nicht in Frage.

Über kurz oder lang hat sich dieses Problem ohnehin erledigt. Spätestens 2021, wenn der Neubau des Gerichts fertig ist, wird der Saal 600 ans Museum übergehen. Derzeit kann er nur zu verhandlungsfreien Zeiten besichtigt werden. Zurückgebaut in den Zustand der Nürnberger Prozesse wird er wohl nicht, wie es der damalige bayerische Finanzminister Markus Söder 2015 angeregt hatte. Dann hätte man das Kreuz wieder abnehmen müssen, ausgerechnet auf Vorschlag von dem, der es nun in allen Amtsstuben verbindlich haben möchte.

Doch die Museumsmacher sind sich einig, dass baulich alles bleiben soll, wie es jetzt ist. Höchstens ein paar Erklärungen zum gewichtigen Kreuz werden dazukommen.

 

Informationen zum "Memorium Nürnberger Prozesse"

Das "Memorium Nürnberger Prozesse" (Bärenschanzstraße 72, Nürnberg) ist täglich außer Dienstag geöffnet (9-18 Uhr, Wochenende 10-18 Uhr). Mehr zu Führungen und Eintrittspreisen erfahren Sie auf www.memorium-nuernberg.de.