Interner Testgang durch den Neubau des "Zukunftsmuseums": Nicole, Jahrgang 1987, ist zufrieden: "Die Barrierefreiheit ist topp, es ist echt klasse", sagt sie nach den ersten Schritten, bei denen sie sich von Journalisten begleiten lässt. Nicole bewegt sich mit einer VR-Brille (VR = virtual reality) auf dem Kopf durch den Ausstellungsbereich "Raum und Zeit", der sich dem alten Menschheitstraum von fernen Galaxien und unendlichen Weiten widmet.

Die verwendete VR-Brille, eine sogenannte HoloLens, ist bei vielen Computer-Spielen bereits Standard. In diesem Fall hat das "Zukunftsmuseum" das Nürnberger Jungunternehmen Inclusify beauftragt, eine Software für den inklusiven Museumsbesuch zu programmieren. Sie wird Menschen mit starker Seheinschränkung oder völlig Blinden einen autonomen Museumsbesuch ermöglichen. Über räumliche Tonsignale werden die Besucher zu den Exponaten in den Ausstellungsbereichen geführt. In einem weiteren Schritt werden die Inhalte an einzelnen Stationen so aufbereitet, dass sich auch Sehbehinderte eigenständig über die Exponate informieren können.

Für erblindete Menschen sind Museumsbesuche kompliziert

Nicole ist als Kleinkind mit gut eineinhalb Jahren komplett erblindet und seitdem von der Welt der Sehenden weitgehend ausgeschlossen. Bei anderen Museumsbesuchen hat sie unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Im Deutsche Bahn Museum Nürnberg konnte sie auch in die große Halle mit den Lokomotiven aus den verschiedenen Epochen. Damit sie sich einen Überblick verschaffen konnte, bekam sie ein besonderes inklusives Angebot. Den Adler, einen Nachbau von Deutschlands erster Lokomotive aus dem Jahr 1835, durfte sie anfassen und ausnahmsweise auch einsteigen. Schlechte Erfahrungen machte sie dagegen bei einem Schokoladenmuseum. Als sie sich für eine Führung anmelden wollte, sei sie brüsk abgewiesen worden.

Derzeit sind im Deutschen Museum Nürnberg die Ausstellungsinhalte für die VR-Brille noch nicht fertig programmiert, Nicoles erstes Fazit beim Probelauf im Deutschen Museum ist aber: "Ich werde die Brille benutzen." Allerdings würde sie lieber die bisherigen akustischen Signale in andere Töne ändern. Außerdem fühle sich die Brille nach einiger Zeit schwer an: "Wie ein halber Helm." Immerhin führt die Brille zum Beispiel zur Station mit über die Gefahren des Weltraumschrotts. Dort kann die junge Frau die Infos in Blindenschrift lesen.

Der Museumsbesuch soll für Alle einen Mehrwert haben 

Taktile Stationen sind Bestandteil der inklusiven Angebote im neuen "Zukunftsmuseum". Grundsätzlich haben die Ausstellungsplaner auch Aspekte wie die Sichthöhen von Infotexten und gute Lesbarkeit durch Kontraste und Farbgebung beachtet. Außerdem finden sich in dem modernen Ausstellungskonzept Stationen für Mehr-Sinne-Erfahrungen, die beispielsweise hörbar, berührbar oder auch mal riechbar sind. Um weitere Barrieren abzubauen, werden Medienstationen untertitelt und von Gebärdensprache begleitet. Audiostationen bieten eine Klinkenbuchse, damit Besucher eigene Kopfhörer nutzen können.

Der nächste Schritt bei der Inklusion ist das digitale Leitsystem mit der VR-Brille. Am Ende will das "Zukunftsmuseum" aber allen Besuchern einen Mehrwert bieten. "Wir sehen das 'Zukunftsmuseum' auch als Plattform, neue, inklusive Konzepte und Technologien auszuprobieren und sie in der praktischen Umsetzung und in der Betrachtung ihrer Akzeptanz zu evaluieren", sagt Louisa Bohn vom "Zukunftsmuseum". So wolle man für eine stärkere Inklusion in unserer Gesellschaft beitragen, dem Thema Raum bieten und das Bewusstsein dafür fördern.

Die Rückmeldungen der Testpersonen sind essentiell für das System 

Für Inclusify-Gründer und Chef Marco Richardson ist das Blindenleitsystem mit der HoloLens-Brille nur ein erster Schritt. Technisch lässt sich das digitale System nahezu beliebig erweitern. Er spricht nicht mehr von Virtueller Realität, sondern "Extended Reality", also einer "erweiterten Realität". Man kann eben auch Gebärdensprache oder Audiofiles einspielen - "für ganz individuelle und autonomere Museumserlebnisse für alle Menschen".

Denn Richardson beschränkt seinen Inklusionsbegriff nicht auf Menschen, die beim Sehen oder Hören eingeschränkt sind. Vielmehr entstehen Behinderungen für ihn dann, wenn Menschen beispielsweise aufgrund persönlicher Merkmale ausgegrenzt sind. Besucher in der Ausstellung sind auch "behindert", wenn sie kein Deutsch lesen können und es keinen Audioguide für ihre Sprache gibt. Inclusify setzt deshalb im Museum, aber auch in der Wirtschaft darauf, den Nutzer ins Zentrum zu stellen. Die Bedürfnisse und das Feedback der Zielgruppe sollen schon früh in der Entwicklung ausgelotet werden.

In die Weiterentwicklung fließt auch die Erfahrung der 73-jährigen Annegret ein. Sie ist durch eine Krankheit erst mit 38 Jahren auf einem Auge komplett erblindet. Mit dem anderen Auge sieht sie die Schemen von Handbewegungen, Licht und Farbe. Ihr fällt beim Testlauf im "Zukunftsmuseum" auf, dass es unter der Brille ziemlich warm wird. Außerdem stören sie die Lichtspiegelungen in der Brille. In Summe ist sie aber zufrieden. Weil sie sonst nicht allein in ein Museum gehen könne, "ist diese Brille schon mit akustischen Signalen gut für mich".