Anlass der Gründung der Arbeiter-Wohlfahrt (AWO) im Jahr 1919 war der damalige politische Umbruch. Nach dem Ersten Weltkrieg sei die Idee entstanden, eine eigene Wohlfahrtsorganisation für die Arbeiterklasse zu schaffen, erzählt der Vorsitzende des bayerischen Landesverbandes, Professor Thomas Beyer. Als eine neue Arbeiterklientel entstand, fühlte sich diese von der Gesellschaft und der Arbeit abhängig. Mit der Gründung der AWO beschloss man sich zu emanzipieren, um sich selbst organisieren und künftig von anderen Menschen unabhängig machen zu können.

Die AWO kämpfte für gesetzliche Grundlagen, die einen Anspruch auf Hilfe vorsahen. "Ein Meilenstein, ist dies gewesen, der bis heute nachwirkt", sagt der Landesvorsitzende. Seit damals fühle sich die AWO den Werten Solidarität, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit verpflichtet. Das Credo des Verbandes laute bis heute: "Wir haben die sozial Benachteiligten unserer Gesellschaft im Blick", sagt Beyer.

Geschichte der Arbeiterwohlfahrt in Bayern

1933 wurde die AWO von den Nationalsozialisten verboten. 1946 erfolgte die Wiedergründung, die AWO wurde zu einer überparteilichen Organisation. Beyer betont: "Wer auch immer Hilfe brauchte, wir traten für ihn ein - und daran hat sich bis heute nichts geändert." Die AWO sah sich auch schon frühzeitig als Vorreiter in punkto Emanzipation. Im Mittelpunkt standen laut Beyer bereits nach dem Ersten Weltkrieg die Gleichberechtigung von Mann und Frau und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Als in den 1950er-Jahren erste Gastarbeiter nach Deutschland kamen, bot der Wohlfahrtsverband Beratungsangebote an. "Viele waren muslimischen Glaubens. Aber wir haben da nie unterschieden", blickt Beyer zurück. Bis heute ist er stolz darauf, dass die AWO eine große Expertise in der Integrations- und Flüchtlingsberatung hat.

Thomas Beyer
Thomas Beyer, Vorsitzender des Landesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Bayern

AWO feiert 100-jähriges Bestehen

Heute, 100 Jahre nach der Gründung, erklärt der Landesvorsitzende, sei das Angebot seines Verbandes breit gestreut, richte sich aber nach wie vor an Menschen, "die nach einer Anlaufstelle suchen, bei der man nicht bitte und danke sagen muss", sagt Beyer und ergänzt: "Wir geben den Menschen eine Stimme. Darauf kommt es an."

Zufrieden mit der Bilanz der AWO ist Beyer, wenn er einen Blick in die Statistik wirft: Im Jahr 2019 zählt der Verband knapp 60.000 Mitglieder. Er beschäftigt rund 33.000 Mitarbeiter und wird von über 12.000 Ehrenamtlichen unterstützt. Allein 455 Kindertageseinrichtungen zählt die AWO, dazu kommen 141 stationäre Altenpflegeeinrichtungen sowie zahlreiche Pflegedienste.

AWO kümmert sich um Menschen mit psychischen Krankheiten

Einen besonderen Schwerpunkt setzt die AWO laut Beyer auf Einrichtungen für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Rund 3.000 Plätze stellt sie in stationären Einrichtungen, teilstationären Einrichtungen, aber auch in Tagesstätten zur Verfügung. Zum weiteren Angebot zählen Freiwilligendienste sowie Einrichtungen wie Mehrgenerationenhäuser, Tafeln, Frauenhäuser und Beratungsstellen.

Für die Zukunft haben sich Beyer und seine Mitstreiter viel vorgenommen. "Wir sind zur sozialen Stimme Bayerns geworden", aber das reiche noch nicht aus, sagt er. Beyer fordert, dass die Politik anerkennt, dass die Wohlfahrtsverbände Großarbeitgeber sind. Der Landesvorsitzende beklagt, dass die Politik ihrer finanziellen Aufgabe nicht nachkommt und die Wohlfahrtspflege in Bereichen wie der Migration- und Asylberatung nicht unterstützt.

Genug hat Beyer "von Sonntagsreden, in denen Politiker die Arbeit des Landesverbandes zwar loben, zugleich aber betonen, diese sind eine freiwillige Leistung des Verbandes." Dringenden Handlungsbedarf gibt es laut Beyer bezüglich der Lohnzahlungen. Wir brauchen einheitliche Tarifverträge. Man sei stolz darauf, diese Forderung bis in den Koalitionsvertrag "hineingetragen zu haben". Beyer spricht von einem Paradoxon: "Wir können nicht von Wertegebundenheit sprechen und dann Lohndumping betreiben."

Aufgaben der Zukunft

Eine weitere Herausforderung, vor der die AWO steht, ist die Mitarbeiterakquise. Es gelinge nicht, junge Menschen zu gewinnen. "Ich denke an Familien, die dankbar für einen Kitaplatz sind. Aber es geht nicht nur darum, Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, sondern auch um Engagement", gibt Beyer zu Bedenken und fügt hinzu: "Wir stehen hier vor einem grundsätzlichen gesellschaftlichen Problem. Die Ansprüche der Menschen steigen, aber die Mitwirkungsbereitschaft sinkt."

Insgesamt ist Beyer aber anlässlich des Jubiläums sehr stolz auf das Geschaffte. Es sei schön, die Vielfalt des Verbands zu sehen, die AWO sei zwar überall anders, nicht aber ihre Werte. Beyer: "Es ist der AWO gelungen, Teil der Gesellschaft zu sein, das ist schön."