James Williams weiß, wie das Herz von Google schlägt. Zehn Jahre hat er für den Internet-Giganten gearbeitet. Dann wechselte er radikal die Seiten. Heute tritt er ein für eine Ethik des Netzes. Im exklusiven Sonntagsblatt-Videointerview erklärt er, wie wir die "Aufmerksamkeits-Falle" des Internets überwinden können.

James Williams war bislang ein eher unbekannter Entwickler. 2017 bekam er den mit 100.000 US-Dollar ausgezeichneten Nine Dots Prize für innovatives Denken. Seither arbeitet er im "Design Ethics Lab" an der Oxford University und hat im Juli 2018 sein Buch "Stand out of our light: Freedom and Persuasion in the Attention Economy" veröffentlicht. Das Buch ist noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. Das ist schade, denn seine Thesen verfolgen einen neuen Ansatz im Umgang mit unserer Informationstechnologie. Doch der Reihe nach. Williams ist überzeugt davon, dass heute nicht die Menge der Information unser Problem ist, sondern die Frage nach der Aufmerksamkeit.

Navigationsgerät Internet stimmt nicht mehr

Williams vergleicht unsere Informationsstruktur im Netz mit einem Navigationsgerät. Jeden Tag, so schildert er das Szenario, steigen wir in unser Auto und geben unserem Navi ein Ziel ein. Am ersten Tag führt uns das Navi auf dem kürzesten Weg zum Ziel. Am zweiten Tag nimmt das Navi einen Umweg. Und am dritten Tag führt es uns zu einem ganz anderen Ort. Wie würden wir uns fühlen? Spätestens am dritten Tag würden wir denken, das Navi ist defekt oder falsch programmiert. Und wenn uns das Navi am vierten Tag erneut falsch lenkt, würden wir es nicht mehr benutzen – oder wutentbrannt aus dem Fenster werfen.

Unsere Informationstechnologie hat die gleiche Aufgabe wie ein Navi: Es soll uns helfen, durch das Leben zu navigieren. Doch während wir sofort reagieren würden, wenn sich ein defektes Navigationsgerät im Auto befindet, haben wir eine hohe Toleranz für Informationstechnologien entwickelt, die uns durch das Netz geleiten - und nicht immer hinführen, wohin wir möchten.

Zeitalter der Aufmerksamkeit

Die Menschheit hat viele Jahrzehnte in einer informationsarmen Umgebung gelebt, erklärt Williams: Vor hundert Jahren konnte sich ein Mensch an eine Straßenecke stellen und laut predigen, und sehr wahrscheinlich blieben andere stehen, um zuzuhören. Sie hatten Zeit und Aufmerksamkeit.

Doch wenn Information die Überhand gewinnt, dann ist Aufmerksamkeit die knappe Ressource. Der Reichtum von Information sorgt für einen Mangel an Aufmerksamkeit. In einem durchschnittlichen amerikanischen Haushalt gebe es 13 Geräte, die mit dem Internet verbunden sind, so Williams.

Die Inversion zwischen Information und Aufmerksamkeit habe unser Leben so umfassend verändert, dass es uns schwer falle, diese Veränderungen wahrzunehmen. Immer seltener gebe es Gelegenheiten, in denen wir offline sind.

Um die Aufmerksamkeit des Nutzers herum habe sich eine ganze Industrie gebildet. Unternehmen kaufen diese Aufmerksamkeit, Plattformen wie Google und Facebook nutzen sie in ihren Algorithmen. Und weil wir Gewohnheitstiere sind, verstärkt das Netz eher unsere Impulse und Gewohnheiten - und schwächt  Intentionen ab, die wir ursprünglich hatten. Damit sind wir immer weniger in der Lage, das zu tun, was uns eigentlich am Herzen liegt.

Facebook kann mit einem Mausklick die Menschheit beeinflussen

Die Macht der Aufmerksamkeit wird immer mehr zentralisiert in den Händen von wenigen Unternehmen, sagt Williams. Nie zuvor in der Geschichte sei es einzelnen Unternehmern wie Facebook möglich gewesen, "mit einem Mausklick die gesamte Menschheit" zu beeinflussen. "Wir leben in einer Assymetrie der Macht, und es ist dringend geboten, sich mit der Ethik des Netzes zu beschäftigen", sagt Williams.

Wie kommt ein Software-Entwickler zu solch einem Schluss? Williams, in Florida geboren und in Texas aufgewachsen, hat Produkt-Design an der Universität Washington und Literatur an der Seattle Pacific University studiert. Dann beschäftigte er sich bei Google zehn Jahre lang intensiv mit der "Aufmerksamkeitsökonomie" der Nutzer. Im Wesentlichen sollte er dort Wege finden, die maximale Aufmerksamkeit des Kunden über Anzeigen und Tools wie Algorithmen zu erreichen, und zwar vollautomatisch. Das gelang ihm offenbar so gut, dass er von Google mit dem Founders Award ausgezeichnet wurde - der höchsten Ehrung, die das Unternehmen verleiht.

 

Ethik der Aufmerksamkeit

Was Williams gelernt hat, kehrt er nun ins Gegenteil um. Das ist ungemein gewinnbringend, denn natürlich kennt Williams das Unternehmen und dessen Strukturen besser als viele andere. Seine "Ethik der Aufmerksamkeit" basiert auf praktischen Erfahrungen. Sein Buch lässt sich in vier wesentlichen Thesen zusammenfassen:

These 1: Unsere Aufmerksamkeit ist gefährdet

Williams ist der Ansicht, dass wir uns bislang zu stark auf die Informationsverarbeitung und Themen rund um 'privacy', also den Schutz der Privatheit, konzentriert haben. Lange Zeit war das Hauptproblem der Menschen, an Informationen zu gelangen. Heute liefern sich die Informationsträger einen Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Leser. Dies führt dazu, dass die Menschen ihre Aufmerksamkeit nicht mehr auf die wichtigen Dinge des Lebens richten. "Wir werden permanent abgelenkt und können uns nicht mehr auf das Wesentliche fokussieren", findet Williams. Er unterscheidet drei Formen der Ablenkung:

  • Funktional ("Doing what you want to do"): Wir sollten wichtigen Dingen unseres Lebens mehr Raum und Zeit widmen. Dazu gehört, dass wir uns um unsere Familie kümmern, Freundschaften pflegen, einem Hobby nachgehen.
  • Existentiell ("Being who you want to be"): Wir sollten unsere Gesellschaft und die eigene Existenz verbessern – hier geht es um unsere Gewohnheiten, unsere Werte und Identität.
  • Epistemisch  ("Wanting what you want"): Wir sollten nicht von der Technik oder den Veränderungen getrieben werden, sondern uns die Zeit nehmen, um unser Handeln zu reflektieren und unsere Aufmerksamkeit auf wichtige Probleme der Gesellschaft zu richten.

"Werbung im Netz ist allgegenwärtig, wird hochindustriell und intelligent und feindselig gegenüber den Nutzern eingesetzt." (James Williams)

These 2: Unternehmen manipulieren unsere Emotionen

Williams hat eine Reihe von Beispielen gesammelt, die verdeutlichen, wie stark die Unternehmen die grundlegenden Bedürfnisse des Menschen unterminieren:

  • Unternehmen stimmen ihre Angebote auf existenzielle Bedürfnisse der Menschen. Netflix hat eine Liste erstellt mit Faktoren, die die Nutzer hindern, die eigenen Sendungen zu schauen. Auf dieser Liste stehen Konkurrenten - aber auch das Schlafbedürfnis der Nutzer. Was ist aber, wenn der Sender seine Angebote mit Cliffhangern usw. so gestaltet, dass die Menschen überlistet werden und immer weiter schauen - obwohl sie eigentlich das Bedürfnis hätten, zu schlafen?
  • Soziale Netzwerke arbeiten mit emotionalen Verstärkern. Mechanismen wie "Likes" geben den Nutzern das Gefühl, sie seien wichtig oder beliebt. Diese Motivationsmaschinerie beeinflusst insbesondere Jugendliche, die versuchen, sich diesem System anzupassen.
  • Manche Unternehmen arbeiten in der Online-Werbung mit der Sehnsucht der Menschen nach Ruhm und Bekanntheit. Dies kann dazu führen, dass Menschen eine Wette eingehen und sich in Lebensgefahr bringen, nur, um für einen Moment berühmt zu werden.
  • Andere Sender nutzten bewusst Emotionen wie Empörung, Ärger und Ekel, um ein Gefühl kollektiver Verbundenheit oder Gemeinschaft zu erzeugen - und damit die Kunden zu binden. Gelegentlich werden gezielt Mobbing-Elemente eingesetzt, die dazu führen, dass der Ruf einer Person zerstört oder diese Person aus dem Netz vertrieben wird.
  • Auch negative und "billige" Argumente werden von Unternehmen für die Werbung genutzt. Der TV-Sender CBS warb mit dem Spruch: "Trump ist schlecht für die Gesellschaft, aber gut für CBS".

Die großen Unternehmen nutzen die Mechanismen der psychologischen Überzeugung und Manipulation, um die Nutzer für ihre Zwecke zu instrumentalisieren: "Die Unternehmen haben über viele Jahrzehnte gelernt, wie Marketing und Werbung funktionieren und wie sie die Aufmerksamkeit der Menschen bekommen, und diese Kenntnisse setzen sie jetzt ein", sagt Williams. Das Problem: Die Werbemechanismen der Unternehmen werden jederzeit und überall im Netz eingesetzt. Nutzer können sich diesen Mechanismen nicht mehr entziehen, selbst wenn sie es wollten.

James Williams - Mechanismen der Ablenkung
James Williams - Mechanismen der Ablenkung

These 3: Technologie sollte dem Menschen wieder dienen

Was ist die Lösung? Williams verwendet das Bild eines Steuermanns, der durch die Gefilde seiner Zeit reist: "Wir Menschen stehen am Steuer und müssen wieder dorthin zurückkommen, wo wir unsere Zeit gut nutzen", sagt er, "we have to get back to the time well spend". Und was macht dieses "wellbeing", also dieses Wohlgefühl aus?

Zunächst sollte die Technologie wieder auf der Seite der Nutzer stehen und nicht gegen sie arbeiten. Ein paar Unternehmen hätten diesen Ansatz inzwischen verstanden, sagt Williams. 

Es gibt durchaus positive Ansätze: Manche Smartphones zeigen den Nutzern an, wie viel Zeit sie mit dem Gerät verbracht haben. Manche Spieleanbieter empfehlen den Nutzern nach einer längeren Spielzeit, eine Pause zu machen. Solche Besipiele sind ein guter Anfang, doch führen sie nicht weit genug, findet Williams.


These 4: Das Vokabular der Marketing-Fachleute durchbrechen

Als ehemaliger Google-Mitarbeiter hat Williams gelernt, wie stark sich Unternehmen der Sprache bedienen, um negative Auswirkungen zu vertuschen oder besser zu verkaufen. Er plädiert dafür, die Sprache aus dem technischen Umfeld wieder auf eine menschliche Basis zu holen: "Wir sollten nicht von "target" sprechen, wenn wir einen Menschen meinen, und nicht von "conversion", wenn es um den Verkauf eines Produktes geht", findet Williams.

Um die Arbeitsweise und die Methoden der Unternehmen zu verdeutlichen, hat Williams eine Matrix für die 'Sprache der Überzeugung' entwickelt. Diese führt von der freundlichen Einladung oder dem unverbindlichen Angebot bis hin zur Versuchung und zur Nachfrage. Je stärker die Verbindlichkeit in der Beziehung zwischen Kunde und Verkäufer, desto höher wird der Zwang für den Kunden, ein Produkt auch zu kaufen. Das Ziel der Unternehmen ist einfach: Sie möchten den Kunden direkt ansprechen, ihn leiten und zum Handeln zu bewegen – natürlich im Sinne der Unternehmensziele, vulgo, des Umsatzes.

Kampagne "Time well spent"

James Williams beteiligt sich auch an der Kampagne "Time well spent", in der es darum geht, die Zeit im Internet gut und sinnvoll zu nutzen. Dabei geht es zum Beispiel darum, wie wir die Kontrolle über unser Smartphone wieder zurückgewinnen können.

Wir haben sechs Tipps zusammengestellt - hier könnt ihr die kostenlose PDF-Datei mit der Infografik herunterladen und mehr lesen.

 

 

Erinnerung an die Kindheit

Um zu verdeutlichen, wie das Netz die Grenzen kontinuierlich auflöst, schildert Williams in seinem Buch eine Episode in seinem Leben, als er als Schüler auf seinem kleinen Rechner lieber Tetris spielte, als dem Unterricht zu folgen. "Ich konnte ganz einfach ein paar Klicks weiter etwas Spaß haben während des Unterrichts, und es schien viel lohnenswerter, als dem Lehrer zuzuhören. (…) Bald fiel ich in meinen Leistungen zurück. Ich war abgelenkt. Ich verachtete mich dafür, dass ich impulsiv und willensschwach geworden war, aber ich kehrte zurück zu diesem Spiel, um Trost zu finden, obwohl ich wusste, dass dieses flüchtig und illusorisch war." Dann durfte Williams nicht an einer Schulreise teilnehmen, weil seine Noten zu schlecht waren. "Erst dann stellte sich dieses Gefühl von 'game over' ein", sagt Williams. Erst dann habe er verstanden, dass er seine Aufmerksamkeit nicht richtig gesetzt habe, erst dann habe er gemerkt, dass die Selbstregulierungsmechanismen nicht mehr funktioniert haben.

Grenzen bedeuten Freiheit

Was sind nun aber die Mechanismen der Selbstregulierung? Der Philosoph Harry Frankfurter erklärt: "Was keine Grenzen hat, hat keine Form. Beziehungen, Spielregeln, Sonnenbrillen, Mauern, Linien auf einer Seite – unser Leben ist voller nützlicher Einschränkungen, denen wir uns freiwillig unterordnen."

Diese These greift Williams auf: Wenn wir uns bestimmten Regeln unterwerfen, können wir unsere Ziele besser erreichen. Wenn sich Odysseus nicht an den Mast angebunden hätte, wäre er nicht in der Lage gewesen, den Gesang der Sirenen zu hören. Die Menschen haben über viele Jahrhunderte ein ganzes Packet an religiösen und kulturellen Regelwerk entwickelt. Diese "Bibliothek der Limitierungen" war eingebettet im sozialen und physischen Leben. Dazu gehören Gewohnheiten, Rituale, soziale Konventionen, Moral und eine Myriade kleiner Rituale und Sitten, die sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt haben.

Der Wandel der Gesellschaft und die damit verbundene Hinwendung zum Individuum habe für eine neue Freiheit gesorgt. Die Digitalisierung sorgte für die Aufhebung sämtlicher Grenzen. Wenn wir die Immobilienindustrie, die Autoindustrie usw. "hacken", dann zerstören wir auch das zugrunde liegende Regelwerk. Dies führt zu einem "Vakuum kultureller Autorität", befürchtet Williams und fordert eine Rückkehr zu bestehenden Kontrollsystemen.