Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Verantwortung der Deutschen für Lehren aus der Geschichte und demokratisches Engagement betont. "Es gibt kein Ende des Erinnerns. Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte", sagte Steinmeier am Freitag bei der zentralen Gedenkveranstaltung zum 8. Mai in Berlin. Nicht das Bekenntnis zur Verantwortung sei eine Schande, sondern das Leugnen, sagte er in seiner 15-minütigen Ansprache vor der Neuen Wache, bei der wegen der Corona-Pandemie keine internationalen Gäste und kein Publikum vor Ort waren.

Steinmeier warb für einen "demokratischen Patriotismus" und erinnerte an die 1985 vom damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker geprägte Formel "Tag der Befreiung" für den 8. Mai 1945. Heute müsse sich die Formulierung an die Zukunft richten, sagte Steinmeier. Befreiung sei niemals abgeschlossen, sie fordere jeden Tag aufs Neue.
 
Der Bundespräsident sagte, heute müssten sich die Deutschen selbst befreien, von der Versuchung eines neuen Nationalismus, der Faszination des Autoritären, von Misstrauen, Abschottung und Feindseligkeit zwischen den Nationen. Befreien müsse man sich auch "von Hass und Hetze, von Fremdenfeindlichkeit und Demokratieverachtung - denn sie sind doch nichts anderes als die alten bösen Geister in neuem Gewand". Dabei erinnerte Steinmeier an die Opfer der rechtsextremistisch, rassistisch oder antisemitisch motivierten Anschläge in Hanau, Halle und Kassel.

In seiner Rede ließ Steinmeier anklingen, wer zum Staatsakt erwartet worden war, der wegen der Corona-Pandemie nicht stattfinden konnte: Vertreter der Alliierten, Zeitzeugen und Jugendliche. "Nun zwingt uns die Corona-Pandemie, allein zu gedenken", sagte der Bundespräsident und appellierte: "Nutzen wir doch die Stille. Halten wir inne."

Zuvor hatte der Bundespräsident zusammen mit Kanzlerin Angela Merkel, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (beide CDU), Bundesratspräsident Dietmar Woidke (SPD) und Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle in der Gedenkstätte Neue Wache der Kriegstoten gedacht. Vor der Zeremonie hatte Merkel mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert. Nach Angaben des deutschen Regierungssprechers Steffen Seibert gedachten sie der Millionen Opfer des Krieges. Sie erklärten, der Krieg gemahne zur engen Zusammenarbeit zwischen den Staaten und Völkern, um Frieden und Verständigung zu wahren und zu fördern.

Bei einer Online-Gedenksitzung des UN-Sicherheitsrates sagte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD), Europa habe sich von einem Kontinent ewig währender Kriege hin zum stärksten Verfechter des Weltfriedens gewandelt. Maas betonte die Bedeutung des Multilateralismus zur Lösung globaler Herausforderungen wie der Corona-Pandemie. Leider fehle internationalen Organisationen allzu oft der Rückhalt. "Unser Unvermögen, die Kriege in Syrien und Libyen zu beenden, gepaart mit der Unfähigkeit, im Nahen und Mittleren Osten oder in der Ukraine für Frieden zu sorgen, untergräbt die Glaubwürdigkeit des Sicherheitsrats und der internationalen Staatengemeinschaft insgesamt", warnte Maas.

Bei einem ökumenischen Gottesdienst am Morgen im Berliner Dom hatten die Kirchen zu Frieden aufgerufen und die deutsche Verantwortung für Lehren aus der Geschichte hervorgehoben. "Nie mehr werden wir zulassen, dass sich der Ungeist, der so viel Leid verursacht hat, der millionenfachen Mord verursacht hat, wieder ausbreitet", sagte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm.

Mit dem Überfall auf Polen hatte das damalige Deutsche Reich am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg begonnen. Zwischen 60 und 70 Millionen Menschen kamen ums Leben. Sechs Millionen Juden fielen dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer. Die militärische Reaktion der Alliierten - der USA, der Sowjetunion, Frankreichs und Großbritanniens - führte zur Kapitulation der Deutschen, die bereits am 7. Mai in Reims erklärt und einen Tag später in Berlin wiederholt wurde.