Immer mehr Menschen in Deutschland sind vom Armut betroffen. Nicht selten heißt es dann allerdings: Selber schuld. Tenor: Die können halt nicht mit Geld umgehen. Auf Twitter trendete kürzlich der Hashtag #IchBinArmutsbetroffen, unter dem betroffene Menschen deutlich machten, was tatsächlich hinter ihrer Armut steckt.

Heidi Ott von der Diakonie Bayern stellt im Sonntagsblatt-Gespräch klar, dass die Ursachen für Armut meist struktureller Natur sind. Sie erklärt außerdem, warum Menschen sich überschulden – und was als Gegenmaßnahme nötig ist.

700.000 Menschen in Bayern sind derzeit überschuldet. Woran liegt es denn, dass so viele Menschen in diese Notlage geraten?

Heidi Ott:  Es gibt verschiedene Ursachen und Anlässe, die zur Überschuldung führen können. An erster Stelle steht die Arbeitslosigkeit oder auch ein geringes Erwerbseinkommen, zum Beispiel Niedriglohn-Bezieher*innen. Oft sind es unvorhersehbare Lebensereignisse wie Krankheit, Trennung, Scheidung, Unfall oder andere Schicksalsschläge, die eintreten und dann von der Verschuldung in eine Überschuldung führen.

Können Sie den Unterschied kurz erklären?

Ott: Von der Verschuldung in die Überschuldung ist es manchmal nur ein kleiner Schritt. Verschuldung heißt, ich habe Schulden, kann die Raten noch bedienen und bin zahlungsfähig. Und Überschuldung heißt, dass der Schuldner seine Ratenzahlungen und den Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kann.

"Verschuldung ist volkswirtschaftlich gewollt und gesellschaftlich anerkannt."

Unsere Gesprächspartnerin Heidi Ott

Unsere Gesprächspartnerin Heidi Ott ist Referentin für Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe, Schuldnerberatung und Bahnhofsmission im Diakonischen Werk Bayern und Geschäftsführerin des Fachverbandes Evangelische Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe, Nürnberg.

Oft hört man zum Thema Überschuldung Sätze wie "Die können halt nicht mit Geld umgehen".

Ott: Das ist natürlich leicht gesagt. Menschen mit wenig Einkommen haben wenig Spielraum, wenn zum Beispiel die Waschmaschine kaputt ist. Das heißt, sie müssen dann Angebote nutzen wie "Jetzt kaufen, später bezahlen" oder einen Kredit aufnehmen. Generell wird es Verbraucher*innen  auch sehr leicht gemacht. Das ganze Angebot ist sehr verlockend.

Die Verschuldung ist volkswirtschaftlich gewollt und gesellschaftlich anerkannt: denken Sie an die Ratenfinanzierungen für ein Auto oder für Einrichtungsgegenstände. Durch unvorhersehbare Ereignisse oder Lebenssituationen kommt es schnell dazu, dass Zahlungsverpflichtungen nicht mehr geleistet werden können und Menschen überschuldet sind.

Also handelt es sich dabei um ein Vorurteil?

Ott: Ja, denn die zentralen Ursachen von Überschuldung sind Arbeitslosigkeit, niedriges Einkommen, Krankheit, Scheidung, Trennung oder auch eine gescheiterte Selbständigkeit.

"Schulden sind mit Scham und Stigmatisierung verbunden und führen Menschen oft in die Vereinsamung."

Nehmen Sie denn wahr, dass das Problem insgesamt zunimmt?

Ott: Der Bedarf an Beratung ist hoch. Bei der Diakonie in Bayern stellen wir fest, dass die Zahl der Ratsuchenden, die sich an unsere soziale Schuldnerberatung wenden, zunimmt. Zwischen 2019 und 2021 gab es einen Anstieg um 16 %. Insgesamt nahmen 13.400 Menschen unser Angebot in Anspruch im Jahr 2021.
Wobei man auch dazu sagen muss, dass nur etwa 10 bis 15 Prozent der überschuldeten Haushalte überhaupt eine Schuldnerberatung in Deutschland in Anspruch nehmen.

Der tatsächliche Bedarf ist also viel höher und das liegt sicherlich auch daran, dass Schulden mit Scham und Stigmatisierung verbunden sind und Menschen oft in die Vereinsamung führen. Deshalb ist es wichtig, frühzeitig eine kostenfreie, soziale Schuldnerberatungsstelle aufzusuchen.

Wie helfen Sie Menschen denn konkret in einer Schuldnerberatung?

Ott: Die Berater*innen versuchen zunächst sich einen Überblick über die finanzielle, soziale und persönliche Situation zu verschaffen. Sie unterstützen dabei, dass die Miete gesichert ist und der Strom bezahlt werden kann, damit es nicht zum Wohnungsverlust kommt. Außerdem geht es auch darum, einen Haushaltsplan zu erstellen mit den Einnahmen und Ausgaben, und nach Möglichkeit die Einnahmen zu erhöhen, die Ausgaben zu reduzieren.

Oft kann es durchaus sein, dass die Ratsuchenden auch Ansprüche haben, zum Beispiel auf Sozialhilfe oder Wohngeld, die bisher nicht beantragt wurden. Die Berater*innen überprüfen die Forderungen und verhandeln mit den Gläubigern, erarbeiten gemeinsam mit dem Ratsuchenden realistische Möglichkeiten, um die Schulden zu regulieren oder ganz abzubauen, unterstützen und begleiten auch bei einem Verbraucherinsolvenzverfahren.

"Armut verursacht Schulden und Schulden machen arm."

Wie wichtig ist Schuldnerberatung für eine wirksame Armutsbekämpfung?

Ott: Schuldnerberatung ist ein ganz wesentlicher Bestandteil für Armutsprävention und -bekämpfung, denn letztendlich verursacht Armut Schulden und Schulden machen arm. Wenn die Schulden über den Kopf wachsen, dann sollen sich Betroffene frühzeitig an eine soziale Schuldnerberatung wenden. Denn Schulden machen langfristig auch krank und führen zu psychischen Belastungen. Kostenfreie Angebote gibt es vor Ort bei den Wohlfahrtsverbänden oder der Kommune bzw. dem Landkreis.

Was wünschen Sie sich denn von der Politik, um wirksam gegen Überschuldung vorzugehen?

Ott: Es gibt mehrere Stellschrauben, im sozialpolitischen sowie im wirtschaftlichen Bereich. Ich denke an die strukturellen Ursachen von Überschuldung wie zum Beispiel Niedriglohn, Arbeitslosigkeit, unzureichende Grundsicherung, niedrige Renten und Mangel an bezahlbaren Wohnraum. Ich denke vor allem aber auch an die Modalitäten bei der Kreditvergabe, wie einem schnellen Abschluss von Ratenkreditverträgen. 

Uns ist es wichtig, dass die soziale Schuldnerberatung in Bayern bedarfsgerecht ausgebaut wird, damit alle Menschen einen Zugang zur kostenfreien Beratung erhalten. Damit kann ein wichtiger Beitrag zur Armutsprävention und Armutsbekämpfung geleistet werden.