Wer Sabine Fries beim Sprechen - besser Gebärdenreden - zusieht, hat den Eindruck, die gehörlose Frau schon lange zu kennen. Ihre Nase kräuselt sich, der Mund verzieht sich, ihre Augen gehen weit auf. Alles in rasant schneller Abfolge. Gleichzeitig malen ihre Hände Zeichen, Bilder in die Luft, als würde sie die Worte unterfüttern mit Nuancen des Gedachten. Reden auf dreidimensionale Art: hochkomplex und faszinierend. Das ist Gebärdensprache. Auf Hörende wirkt es anstrengend, für Gehörlose ist es Alltag - der Alltag von Sabine Fries.

Übersetzungen in Gebärdensprache in Deutschland die Ausnahme

Sie ist die erste gehörlose Professorin in Deutschland und unterrichtet an der Hochschule in Landshut den Nachwuchs an Gebärdensprachdolmetschern.

"Der Bedarf ist immens", sagt Fries.

Während in den USA Nachrichtensendungen, kulturelle Veranstaltungen und Vorträge wie selbstverständlich "gebärdet" werden, ist dies in Deutschland noch die Ausnahme.

Auch wenn das Verständnis für Gehörlose in der Gesellschaft schon viel größer geworden ist: Die Inklusionsmaßnahmen der Bildungspolitik beschränken sich häufig darauf, "taube Menschen mit noch besseren Geräten hörend zu machen oder noch besser lautsprachlich kommunizieren zu lehren", sagt Fries.

"Letztlich bleiben sie dadurch von vielen Informationen ausgeschlossen."

Der Modus Operandi in Deutschland sei zudem immer noch die Einzelintegration. Wollen gehörlose Kinder in eine Regel- statt Förderschule gehen, um eine adäquate Bildung zu erhalten, müssen Eltern einen Gebärdensprachdolmetscher besorgen und oft auch noch die Bezahlung organisieren. "Ein systematisches Unterstützungssystem fehlt hier", sagt die 58-jährige Theologin.

Bibel thematisiert Heilung von Gehörlosigkeit 

Bei einem Vortrag in der Christuskirche in Landshut - von einer Gebärdensprachdolmetscherin übersetzt - erzählt sie eine Episode, die ihr beim Besuch einer Kathedrale in England passiert ist. Dort traf sie auf einen Pfarrer, der ihr nach einem kurzen Gespräch anbot, für ihre Heilung zu beten.

"Es kam mir wie Cancel Culture vor. Es leugnet alles, was ich bin. Als würde er Gott bitten, dass er einen Mann aus mir macht."

Selbst die Bibel habe Heilung im Sinn. Im Markusevangelium heißt es bei der Begegnung Jesu mit einem Taubstummen, diesem würden von Jesus "die Ohren geöffnet und die Zunge gelöst". Wieder ist sie da, die Empörung: "Ausgerechnet eine Heilung."

Für die Emanzipationsbestrebungen und Empowerment-Bemühungen der Deaf Community, so nennt sich die Gemeinschaft der Gehörlosen, seien solche Haltungen kontraproduktiv. Wunderheilmittel seien nicht erwünscht, mehr Gebärdensprachdolmetscher dagegen schon. Viele von ihnen tragen aus diesem Grund gerne das T-Shirt mit der Aufschrift: "Deaf People können alles, außer hören!"

Gebärdensprache sollte an Schulen unterrichtet werden

Fries wuchs als Tochter gehörloser Eltern bilingual auf, mit Deutsch und Deutscher Gebärdensprache. Ihren Eltern verdankt sie, dass sie in vollem Umfang Bildung genossen hat, denn sie schickten sie in die Regelschule. "Meine beste Freundin saß in der Schule neben mir und fungierte als Dolmetscherin und Mitschreibkraft." Ihre nicht-gehörlose Großmutter lehrte sie das Sprechen. Man merkt Fries nicht an, dass sie weder sich selbst noch ihr Gegenüber hört.

"Ich glaube, all diese Erfahrungen sind Teil meines Selbstbewusstseins", sagt sie.

Damit Gehörlose nicht weiter isoliert sind, müsste an den Schulen Gebärdensprache angeboten werden. "Für die ganze Klasse, damit sie lernt, mit den tauben Mitschülern zu kommunizieren." Ein Mensch von tausend kommt gehörlos auf die Welt. Gebärdensprache sei eine Sprache wie jede andere, "wie Französisch oder Finnisch", sagt die Professorin, deren Mann und drei Kinder nicht-gehörlos sind. Auf Dauer von den Lippen abzulesen aber sei anstrengend.

Fries hat in Berlin evangelische Theologie studiert, arbeitete lange Zeit in der Gehörlosenseelsorge in Berlin mit. Sie baute dort den Studiengang Gebärdensprachdolmetschen mit auf. Seit 2016 ist sie Professorin in Landshut und pendelt zwischen der Hauptstadt und Landshut hin und her. In Berlin-Mitte hat sie ihre Lieblingscafés und Kulturangebote, ihre Kinder und den Partner. In Landshut lebt sie in einem Mehrgenerationen-Wohnprojekt. "Da fühle ich mich sehr wohl."

Fries ist eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht. Einen Wunsch hat sie trotzdem: Eine geregelte Verfügbarkeit von Dolmetschern müsste ihr zufolge zum Alltag gehören. Ihrem gehörlosen Vater, der früher bei VW in Wolfsburg gearbeitet hat, seien die Kollegen aus Italien am liebsten gewesen, "weil sie so stark in der Gestik und Mimik sind". Sie seien offen gewesen und wollten sich unterhalten.

"Hörende könnten ruhig neugieriger auf uns sein."

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden