Es war kein Unfall wie jeder andere, der sich am letzten Januartag in einer niederbayerischen Gemeinde ereignete. Vier Kinder waren kurz vor acht Uhr morgens unterwegs zur Schule. Die Fußgängerampel schaltete auf Grün, die Kinder überquerten die Straße. In diesem Moment bog eine 74-jährige Autofahrerin um die Ecke und erfasste die vier Schüler im Alter zwischen neun und zwölf Jahren. Nach dem Aufprall hielt die Fahrerin kurz an. Dann fuhr sie weiter.

Die Schüler wurden zum Glück nur leicht verletzt, die flüchtige Fahrerin konnte gefunden werden, weil sich die Kinder das Kennzeichen merken konnten. Gegenüber den Beamten gab die Frau an, dass sie weitergefahren sei, da sie noch zur Kirche wollte.

Bibeltext zum Barmherzigen Samariter

Geradezu verstörend wirkt diese Entschuldigung. Man bringt es gedanklich nicht zusammen, den Unfall mit verletzten Kindern und den Wunsch der Unfallflüchtigen nach religiöser Einkehr - oder was immer die Frau in der Kirche machen wollte. Wie soll das gehen? Erst Kinder anfahren, dann beten?

Ohne die Hintergründe zu kennen, muss man fast davon ausgehen, dass die Fahrerin verwirrt oder in anderer Weise geistig eingeschränkt war. Ihren Führerschein musste sie abgeben.

Verstörend wirkt die Polizeimeldung auch, weil sie auf merkwürdige Weise an die biblische Erzählung vom barmherzigen Samariter aus Lukas 10 erinnert: Jesus erzählt die Geschichte, wie ein Mann auf dem Weg von Jerusalem hinab nach Jericho unter die Räuber geriet, die ihn ausplünderten und schwer verletzt liegen ließen. Ein vorüber kommender Priester sah ihn und ging weiter, ebenso ignorierte ihn ein Levit. Ihre religiösen Dienste in der nahen Priesterstadt Jericho hatten Vorrang. Wenn der Mann tot gewesen wäre, hätte sich der Priester durch eine Berührung entweiht. Der Levit wäre durch eine Berührung sieben Tage rituell unrein gewesen, er hätte also in Jericho keine religiösen Rituale verrichten können.

Schließlich sah ihn ein Samaritaner, erbarmte sich, versorgte seine Wunden und transportierte ihn auf seinem Esel zur Herberge, wo er den Wirt am folgenden Morgen bezahlte und mit der weiteren Pflege beauftragte, verbunden mit der Zusage seiner Wiederkehr und der Erstattung weiterer Kosten.

Barmherziger Samaritaner zur Zeit Jesu

Die Samaritaner galten zur Zeit Jesu als religiöse Verwandte aus dem ehemaligen Nordreich, wurden aber auf der anderen Seite zutiefst verachtet. Im Jahr 9 n. Chr. hatten Samaritaner den Tempelplatz zu Jerusalem in den Tagen des Paschafests durch Ausstreuen menschlicher Gebeine verunreinigt, somit konnten sie aus jüdischer Sicht keine Nächsten sein. Jesus macht mit der Erzählung also klar, dass nicht die Herkunft entscheidet, wer der Nächste ist, sondern die Tat.

Jesus erzählt die Beispielgeschichte in einem Disput mit Schriftgelehrten über die Frage, was zum Erwerb des ewigen Lebens zu tun sei. Er nennt das Verhalten des Samaritaners beispielhaft für die Erfüllung des Gebots der Nächstenliebe, wie es in der Thora zitiert ist: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst" (5. Mose 6, 4-5 und 3. Mose 19, 18).

Jesus und der Samariter: Erfunden und doch real

Jesus hat die Geschichte erfunden, und doch war sie reales Alltagsdrama. Besucher des Heiligen Landes können heute noch den etwa 27 Kilometer langen Weg von den Bergen Jerusalems nach Jericho ins Jordantal hinabwandern, ein beschwerlicher Abstieg über mehr als 1000 Höhenmeter durch Felswände und Schluchten, ein Teilstück des ehemaligen Haupthandelswegs zwischen Afrika und Asien. Damals wie heute ist die Sicherheitslage unübersichtlich. Die Räuber hatten es leicht, der Weg war viel begangen.

Der Psychologe C. Daniel Batson hat diesen Weg von Jerusalem nach Jericho im Jahr 1970 für ein Experiment auf das Gelände der Princeton University verlegt. Auf einem schäbigen, einsamen und unbeleuchteten Asphaltpfad zwischen der Psychologieabteilung und einem Gebäude der Soziologen schickte er Theologiestudenten auf die Reise.

Batson hatte das Experiment getarnt. Er hielt die Theologen im Glauben, es gehe um eine Untersuchung zur religiösen Bildung und Berufung. Sie wurden gebeten, einen Vortrag von drei bis fünf Minuten Länge vorzubereiten, den sie im abgelegenen Soziologiegebäude auf Band sprechen sollten.

Auf dem Weg dorthin fand die unvorhergesehene Begegnung mit dem "Opfer" statt. Auf kaltem Betonboden saß zusammengekrümmt ein Mann mit zerzaustem Haar, die Hände tief in den Taschen seiner Windjacke vergraben, die Augen geschlossen. Er hustete und stöhnte, wenn die Versuchsperson sich näherte.

Während dreier Tage schickte Batson 47 Studenten zum Soziologiegebäude. Nicht ohne Zwischenfälle. Es gab unter den Versuchspersonen eine Art Superhelfer: Leute, die einfach nicht vom Opfer abließen, bis sie ihm bei einer Tasse Kaffee von Jesus erzählen konnten. Das brachte die Planung durcheinander, da alle halbe Stunde eine neue Versuchsperson losgeschickt werden musste. Andere gingen hastig vorbei, weil ja bei den Soziologen ein Tontechniker wartete.

Psychologe C. Daniel Batson hat Weg von Jerusalem nach Jericho im Jahr 1970 nachgezeichnet

Batson variierte die Vorgaben an die Versuchspersonen. Die Theologiestudenten, die mehr als genügend Zeit für den Weg bekamen, boten sechsmal häufiger ihre Hilfe an als solche, die zur Eile gedrängt wurden. Doch das erstaunlichste Ergebnis war ein anderes: Ob die Leute halfen oder nicht, hing nicht im Geringsten damit zusammen, ob sie gerade mit religiösen Gedanken befasst waren oder nicht. Ein Teil der Studenten sollte im Tonstudio einen belanglosen Vortrag über die Berufsperspektiven gescheiterter Pfarrer halten. Der andere Teil sollte über das Gleichnis des barmherzigen Samariters predigen. Gleich mehrere von ihnen stiegen ohne anzuhalten über das Opfer hinweg.

Batson kam zum Schluss, dass weniger hilfsbereit ist, wer es eilig hat. Jesu Beispielerzählung sah er im Experiment bestätigt. Der Priester und der Levit, so spekulierte Batson, waren religiöse Funktionäre, "eilig unterwegs mit kleinen schwarzen Büchern voller Treffen und Verabredungen, verstohlen auf ihre Sonnenuhren blickend." Der Samariter dagegen war kein wichtiger Mann und hatte Zeit. Batson fragte sich auch, ob derjenige weniger hilfsbereit ist, der seine Religiosität mit einem persönlichen Eigennutz verbindet, als derjenige, der Religion ohne Hintergedanken als Suche nach dem Sinn seines Lebens betrachtet.

Hilfsbereitschaft hängt von Achtsamkeit ab

Ob jemand hilft oder nicht, hängt weniger von seiner religiösen Einstellung ab als von seiner Achtsamkeit und seiner generellen Offenheit anderen gegenüber - und eben davon, ob er Zeit hat oder nicht, ob er gelassen ist oder gestresst.

Für Christen bleibt die Erzählung vom barmherzigen Samariter ein Stachel: Es waren nicht die religiös viel beschäftigten Frommen, die dem Verletzten halfen. Jesu Botschaft ist: Nicht die Zugehörigkeit zum religiösen Establishment ist für ein gottgefälliges und gelingendes Leben entscheidend, sondern der liebende Umgang mit dem Mitmenschen. Für alle Menschen gilt: "Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Matthäus 25, 40).

Und heute? Um die Verletzten am Wegesrand bemühen sich Rotes Kreuz, Malteser, Johanniter und Arbeiter-Samariter-Bund. Die Rettungswagen liefern sich manchmal ein Wettrennen, wer nun die Erste Hilfe und den Krankentransport übernehmen darf. Institutionalisierte Nächstenliebe im Konkurrenzkampf.

Wo liegen dann die Wegränder unserer modernen Gesellschaft, die über einen Sozialstaat, Caritas, Diakonie und eine unüberschaubare Zahl säkularer Hilfsorganisationen verfügt?

Wer ist heute der ausgeplünderte Mensch am Wegesrand?

Ist es der 69-Jährige mit schmaler Rente, der seine günstige Wohnung im neuen In-Viertel Münchens nach 40 Jahren verlassen muss, weil der Altbau von Immobilien-Räubern luxussaniert wird?

Ist es ein sogenannter Wirtschaftsflüchtling aus dem Süden der Erdhalbkugel, dessen Land von internationalen Konzernen ausgebeutet wird und der deshalb bei uns sein Glück versucht?

Oder ist es die 92-Jährige aus Dortmund-Kirchhörde, die - ein realer Fall - vor vier Jahren ihr kleines Vermögen einer Bankberaterin der Commerzbank anvertraute, die es dann mit einer unkündbaren Laufzeit von 20 Jahren fest anlegte? Den 66-seitigen kleingedruckten Vertrag wollte die pensionierte Lehrerin nicht durchlesen, weil sie mehr als sechs Jahrzehnte bei der Commerzbank war. Ihr Geld - das sie jetzt dringend für eine Pflegekraft brauchen würde - sieht sie nun mit 108 Jahren wieder. Sie ist bei der Bank ihres Vertrauens unter die Räuber gefallen.

Haben wir offene Augen und ein offenes Herz für diese Menschen? Haben wir Zeit für sie? Nehmen wir sie wahr, gehen wir auf sie zu? Oder werden es wieder Fremde sein, die diesen am Wegesrand Liegengebliebenen aufhelfen?