Klar, ich kenne das Vaterunser aus dem Gottesdienst, aber weitaus öfter habe ich es in der Schule gebetet. Das war bei uns einfach so. Vorneweg das Kreuzzeichen: "Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes." Und dann kam immer das Vaterunser.

Tausendmal bestimmt. Kaum war es gesprochen nochmal Kreuzzeichen und dann Ausfragen. Manche Lehrer hatten ein besonderes Talent im Ausfragen, sie haben erst mal theatralisch den Finger über der Schülerliste kreisen lassen, wie einen rüttelnden Falken, und dann hat sich der Finger blitzschnell gesenkt. Die schwächeren Schüler waren zu dem Zeitpunkt schon fix und fertig. Im Namen des Vaters. dachte ich mir, aha. Und so war mir das Vaterunser erst mal gründlich verdorben.

Erst spät und mit einer gewissen Verlegenheit habe ich mich diesem Gebet aller Gebete genähert.

Der Weg war weit. Heute bete ich es manchmal, wenn ich mittags die Glocken höre und ich Zeit habe. Vater unser im Himmel... ganz privat, für mich in der Stille.

So lange, wie ich es jetzt schon bete, merke ich, dass ich mit dem Gebet nicht fertig werde. Satz für Satz, Wort für Wort, ist es eine Herausforderung.

Der heutige Sonntag heißt "Rogate". Das ist die Aufforderung zum Beten oder zum Bitten, je nach Übersetzung.

Wir hören den Text, der heute in allen evangelischen Gottesdiensten gelesen wird:

Wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, um sich vor den Leuten zu zeigen. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt.

Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.

Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen.

Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.

Darum sollt ihr so beten:

Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt.

Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. (Mt 6,5-13)

Zwei Schlüssel öffnen mir den Zugang zum Vaterunser, ja, sogar zum Beten an sich.

Den ersten Schlüssel habe ich bei einer Nonne gefunden, bei Gertud von Helfta, einer Zisterzienserin aus dem 13. Jahrhundert. Der Schlüssel besteht aus einem einzigen Satz. Er lautet: "Vor Dir steht die leere Schale meiner Sehnsucht"

Mit diesem Sprach-Bild habe ich für mich etwas ganz Grundlegendes begriffen: Beten bedeutet, eine leere Schale hinstellen. Ich kann nicht beeinflussen, ob oder was in sie hinein fällt, aber ich bin voller Vertrauen, dass ich sie nicht umsonst hinstelle.

Die Bettelschale soll leer sein. Die Bettelschale – ein Bild für mein Herz, ja für mich. Alles Mögliche beschäftigt mich. Meine Arbeit, meine Sorgen, mein Wissen, meine Angst. Im Gebet trete ich vor Gott hin. Ich lasse all die Dinge, die mich beschäftigen, gehen und richte meine Sehnsucht auf Gott. Hier, sage ich, sieh mein Herz. Ich habe Platz gemacht. Für Dich.

Als das Beispiel für jemanden, der Raum für Gott gemacht hat, gilt vielen Christen Maria, die Gottgebärerin, die sie in der orthodoxen Kirche genannt wird.

Den zweiten Schlüssel für das Vaterunser habe ich in einem Gebet gefunden, das dem Vaterunser ganz eng verwandt ist.

Es heißt Achtzehn-Bitten-Gebet und wird in der Synagoge gebetet. Als ich mir dies etwas gründlicher angeschaut habe – auch, um mehr über das Vaterunser zu lernen, habe ich entdeckt, dass nach jeder einzelnen Bitte dieses Gebets ein Lobpreis Gottes folgt. Er lautet zum Beispiel so: Gelobt seist Du, Ewiger, der Du das Gebet erhörst!

Die Erfüllung der Bitten wird also gelobt, kaum, dass die Bitte selbst verklungen ist. Das hat mich erst mal erstaunt. So zu beten ändert alles. Wer so betet, richtet seinen Blick nicht auf seinen Mangel, sondern auf die Fülle in Gott, der weiß, was wir brauchen. Jesus sagt das so: Euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.

Und Dietrich Bonhoeffer kommentiert:

Wir dürfen wissen, daß Gott weiß, was wir bedürfen, ehe wir darum bitten. Das gibt unserem Gebet größte Zuversicht und fröhliche Gewißheit. (Nachfolge, DBW Band 4, Seite 158)

Ich bin kein Bettler, der an eine fremde Türe klopft, sondern ein Sohn, der heim kommt und Hilfe sucht. Warum dann überhaupt noch bitten? Hier komme ich auf meinen ersten Schlüssel zurück: "Vor Dir steht die leere Schale meiner Sehnsucht." Jetzt kann Gott tun, was er tut, weil er Gott ist. Ich brauche die Bitte, und Gott wartet auf die Bitte, denn sonst bin ich nicht ansprechbar.

Das Vaterunser hilft mir, mich immer wieder neu auf die Wirklichkeit Gottes einzustellen. Das ist wie bei einer altmodischen Uhr, die man immer mal wieder nachstellen muss, damit sie die Zeit richtig zeigt. Das Vaterunser gibt mir eine Richtung und es stellt mich in Frage. An den ersten vier Bitten will ich versuchen zu zeigen, wie das geschieht.

Dein Name werde geheiligt.

Die erste Bitte. Dein Name werde geheiligt. Der Name Gottes... Wenn das so leicht wäre. Genau genommen haben wir keinen Namen Gottes. Als Mose fragt, wie Gott heißt, bekommt er eine nebulöse Antwort: "Ich werde sein, der ich sein werde!" Umgangssprachlich muss man das wohl so übersetzen: "Da schaust mal, dann siehst du‘s schon. Also halt die Augen auf! Ich werde da sein. Versprochen."

Moses erfährt also nichts über Gottes Namen. Gott ist nicht mit einem Namen, einem Begriff definierbar. Die Gläubigen müssen ihre Schale leeren – offen bleiben, sonst verpassen sie die Gegenwart Gottes. Wie im Achtzehn-Bitten-Gebet formuliere ich einen Lobruf passend zur Bitte: Gelobt seist Du, Ewiger, Dein Name steht über allen Namen!

Die Konsequenz daraus ist ganz erheblich: Alle großen Namen stehen unter dem Namen Gottes. Was zuerst wie eine unerträgliche Diktatur klingt, ist aber eine Befreiung. Wenn ich sage: "Geheiligt werde dein Name, Gott", dann schaue ich nicht mehr auf mich selbst, auf meinen Namen. Ich schaue nicht mehr darauf, wie groß ich bin und ich verzichte auch darauf, zu erkunden, wie klein ich bin, wie traurig, wie belastet, wie krank oder wie unbedeutend. Ich lasse mein eigenes Bild von mir selbst gehen und richte mich aus, auf den, der keinen Namen hat, ja, der keinen Namen braucht.

Schon diese erste Bitte reicht für ein ganzes Leben, um sie zu beten.

Dein Name werde geheiligt – nicht meiner.

Dein Name werde geheiligt – nicht der Name der Krankheit.

Dein Name werde geheiligt – nicht der Name der Mächtigen.

Dein Reich komme. Die zweite Bitte.

In all seinem Reden und Tun stellt Jesus das Reich Gottes in den Mittelpunkt. Am klarsten wird dieses Reich Gottes in der Bergpredigt von ihm beschrieben. Und das Zentrum der Bergpredigt ist unser Gebet, das Vaterunser. Das Wort Reich ist belastet. Das Römische Reich, das Deutsche Reich, das Dritte Reich. Lauter Macht und Gebiete, die durch Kriege erweitert werden, Herrscher in ihrer Herrlichkeit und in ihrem Reichtum. Und jede Menge Angst.

Aber hier geht es nicht um Reiche, wie wir sie kennen, hier geht es darum, wie Gott wirkt, wie seine Macht erlebbar wird. Wie Gott sich zeigt. Er kommt herunter. Er verzichtet auf seinen göttlichen Status. Er wäscht seinen Jüngern die Füße, er besucht einen Besessenen, der in einem Grab haust, er setzt sich mit Sündern an den Tisch. Die Herrschaft Gottes, sein Reich. So sieht es aus.

Jesus zeigt: Die Herrschaft Gottes – sie ist schon mitten unter euch!

Die Gefahr besteht, dass man nun anfängt, eine Übung aus der Herrschaft Gottes zu machen: Eine Übung in Frömmigkeit. What would Jesus do? Was würde Jesus tun? Fragt man dann und man versucht das Reich Gottes hier aufzubauen. Aber da ist nichts aufzubauen! Es ist ja da. Aber es fühlt sich nicht so an, als wäre es da. Also – kann ich es trotzdem finden?

Im Reich Gottes gibt es kein in und out, Freund und Feind, Leistungsträger und Sozialschamrotzer, Herr und Knecht, Mann und Frau. Und doch teilen wir die Welt in lauter Kästchen ein und uns selbst gleich mit. Wir haben eine Freude an der Ordnung. Die Ordnung hat ja auch einen Sinn, sie sortiert für uns die Erscheinungen der Welt. Aber mit der Ordnung kommen auch gleich die Werturteile. Und schon ist das Reich Gottes verdeckt.

Wenn ich bitte "dein Reich komme", bekomme ich einen anderen Blick. Meine Ordnungen, Einteilungen und Kategorien werden durchsichtig. Ich schau auf die Welt, als wäre Gottes Herrschaft schon da. Ich entdecke: Jeder Mensch ist von einer Mutter geboren. Jeder Mensch kommt nackt auf die Welt. Jeder Mensch geht ohne jeden Besitz von dieser Welt. Jeder braucht Nahrung, jeder muss schlafen, jeder kennt das Gefühl der Angst und jeder Mensch sehnt sich nach Liebe. Keine Ordnung, keine Einteilung kann diese grundlegende Wirklichkeit verdecken. Wenn ich all die Unterscheidungen und Ordnungen zurückstelle, kann auch ich es sehen.

Jesus tut nichts anderes, als auf das Reich Gottes zu zeigen. Seine Gegenwart schafft Vertrauen und die Menschen können Gott und sein Reich erkennen. So werden sie heil. Ich formuliere also den passenden Lobpreis zur Bitte:

Gelobt seist Du, Ewiger, der du deine Herrschaft aufrichtest, mitten in der Welt.

In der Bitte um die Herrschaft Gottes werden die Grenzen zwischen den Völkern und Kirchen durchlässig. Deswegen hören wir heute das Vaterunser in vielen verschiedenen Sprachen.

Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.

Aber was ist der Wille Gottes? Ich schaue in die Schrift. Schon ganz am Beginn der Bibel zeigt es sich: Durch den Verzehr der Frucht vom Baum der Erkenntnis haben die Menschen angefangen zu unterscheiden. Gut und Böse, nackt und bedeckt, Wahrheit und Lüge. Sie sind im eigentlichen Sinne erst Menschen geworden. Menschen kennen Scham, sie kennen die Lüge und sie unterscheiden in vielerlei Kategorien, wie wir vorhin schon gehört haben. Das Paradies ist also verloren, daran ist wohl nicht zu rütteln.

Gott nimmt die Menschen trotzdem ernst und er schenkt ihnen Kleidung für die neu entdeckte Scham. Er gibt ihnen eine Zukunft – Jenseits von Eden. Gottes Wille ist es also, dass Leben möglich ist – er beschämt die Nackten nicht, er bedeckt sie.

Auch bei den Propheten steht nicht der Zorn Gottes im Vordergrund, sondern seine Sehnsucht nach der Umkehr des Volkes und seine Bereitschaft zur Vergebung. Wie ein Bräutigam wirbt er um seine Braut und er sehnt sich danach, dass die Menschen umkehren. Gott ist Barmherzig. Sein Wille ist Barmherzigkeit.

Darauf vertraut auch Jesus als er am Vorabend seiner Kreuzigung betet:

Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst! (Matthäus 26,39)

Jesus setzt alles auf den Willen Gottes, auch wenn er nicht weiß, wie das gut gehen soll. Er hat Angst, und er spricht sie auch aus. Und doch legt er die Angst voller Vertrauen beiseite, er macht seine Bettelschale leer und erwartet, was Gott hinein legen will.

Aber Vorsicht. Sich auf Gott verlassen und auf seinen Willen zu vertrauen, das bedeutet nicht, darauf zu verzichten, Verantwortung zu übernehmen und für sich zu sorgen. Da könnte auch einer kommen und sagen: Füge dich! Das ist Gottes Wille! Warum leistest Du Widerstand? Die Balance zwischen Widerstand und Ergebung in den Willen Gottes ist nicht leicht zu halten.

Gerade sind wir in einer Lebenssituation, die wir uns anders wünschen. Eine ansteckende Krankheit bedroht nicht nur sehr schwache und alte Menschen, sondern auch junge und gesunde. Ich kann diese Situation als Zumutung ablehnen – aber was bringt der Protest gegen eine Krankheit? Ich kann mich der Situation auch hilflos aussetzen, indem ich sie leugne, aber was dann passiert, konnte man sehen. In Bergamo oder in Manaus, in Brasilien. Es ist eine feine Balance zwischen fröhlicher Hoffnung und beherztem Tun. Beides gehört zusammen.

Der Lobpreis passend zur Bitte lautet etwa so: Gelobt seist Du, Ewiger, der du deinen Willen tust an mir. Was für ein mutiger Satz – gerade in großer Not! Dietrich Bonhoeffer schreibt dazu in einem Brief aus dem Gefängnis:

"Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.

Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein."1

Dein Wille geschehe – drei kleine Worte. Und wie schwer ist es, sie wirklich nicht nur zu beten, sondern das Leben danach zu richten.

Unser tägliches Brot gib uns heute

Die folgende Bitte ist viel konkreter, nicht wirklich einfacher, aber sie beschreibt unmittelbar den Alltag, denn Brot kennt jeder. Unser tägliches Brot gib uns heute. Ich drehe den Satz gleich mal um und forme ein Lob Gottes daraus: Gelobt seist Du, Ewiger, der du das Brot aus der Erde hervorbringst.

Und mit diesem Satz gehe ich jetzt in den Supermarkt. Ich schaue mich um, sehe das Obst, das Gemüse, die Säfte, die Süßigkeiten und das Mineralwasser, den Wein und das Brot. Gelobt seist Du, Ewiger, der Du das Mineralwasser sprudeln lässt, aus dem Fels. Vergesse ich da nicht was? Da ist Ingenieur, der den Brunnen gebohrt hat. Da ist die Arbeiterin in der Abfüllhalle. Da ist der LKW-Fahrer, der die Kästen transportiert hat und die Verkäuferin, die die Regale pflegt. Ich verdiene mir mein Brot doch! Ich arbeite ja auch dafür.

All das fällt nicht weg, wenn ich Gott um das tägliche Brot bitte. Aber ich werde selbst leer, wie eine Bettelschale. Und die Dinge des Alltags fallen in mich hinein als ein Geschenk, das ich empfange. Ich empfange durch die Arbeit vieler Menschen. Ich empfange durch die Quelle im Berg und durch die Sonne auf dem Getreide, durch den Beruf, den ich ausüben darf und durch die Tage, in denen ich lebe.

Die Bitte um das Brot lässt alles im Licht der Liebe Gottes aufleuchten. Ja, ich bin reich beschenkt. In jedem Bissen Brot kann ich das entdecken. Gelobt seist Du, Ewiger. Aus diesem Geist der sich so reich beschenkt weiß, kann Großzügigkeit erwachsen. Im Vertrauen darauf, dass mir das für heute Nötige gegeben wird, kann ich freigiebig sein, mit Brot, mit Wein und mit Liebe.

Während meiner Kindheit und Jugend habe ich die Bitten des Vaterunsers gedankenlos mitgemurmelt.

Auch heute spreche ich sie oft, ohne die Worte zu bedenken. Das Vater Unser ist mir eine Heimat geworden. Wenn ich mittags die Glocken höre, und ich habe gerade Zeit, dann spreche ich das Vater Unser, im Stillen und für mich. Die Bitten werfen ihr Licht auf mein Leben. Da ist es egal ob ich gerade in der Fußgängerzone stehe oder im Klassenraum, ob ich am Computer die neuen Emails lese oder ob ich Gemüse putze.

Für einen Augenblick halte ich ein und schalte auf Empfang. Ich werde still, schaffe Raum in mir und ich lausche auf Gott. Als mein Gebet immer andächtiger und innerlicher wurde, da hatte ich immer weniger zu sagen. Zuletzt wurde ich ganz still. Ich wurde, was womöglich noch ein größerer Gegensatz zum Reden ist, ich wurde ein Hörer.

Ich meinte erst, Beten sei Reden. Ich lernte aber, dass Beten nicht bloß Schweigen ist, sondern hören. So ist es: Beten heißt nicht, sich selbst reden hören. Beten heißt: Still werden und still sein und warten, bis der Betende Gott hört.2

 

1 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung (DBW, Bd. 8), S. 30f