Der Name als Programm

Die evangelischen Christen haben's ja nicht so mit den Heiligen. Sie feiern – im Unterschied zu ihren katholischen Geschwistern – auch keine Namenstage. Bis vor kurzem wenigstens: Seit neuestem tauchen die Heiligen etwas verschämt auch wieder in evangelischen Kalendern auf. Namenstage, das sind diese Tage, die einem Vorbild des Glaubens gewidmet sind und das neugeborenen Kind bekommt bei der Taufe dessen Namen. Dabei ist die Entscheidung, einem Kind einen bestimmten Namen zu geben für Eltern immer ein bedeutender Akt. Wie oft wird eine werdende Mutter gefragt: Hast Du? Habt Ihr schon einen Namen?

In den urchristlichen Gemeinden war der Namenstag, der Tag, an dem ein Mensch sich taufen lies und Christ wurde. Die Urchristen tauften ja Erwachsene. Und diese Männer und Frauen hießen beispielsweise im griechischen Sprachraum Linos oder Odysseus, Orpheus, Achilles oder Zoe. Und wenn Achilles oder Zoe beschlossen ein Christ oder eine Christin zu werden, dann bekamen sie einen neuen Namen. Einen christlichen: Christian zum Beispiel Paula, Andrea oder Johannes. Jeder dieser Namen verwies auf einen Menschen, der ein Vorbild sein könnte, für ein Leben als Christ oder Christin. Die erwachsenen Täuflinge dachten in der Zeit, in der sie eingeführt wurden ins Christentum, lange darüber nach, für welchen neuen Namen sie sich entscheiden wollten.

Der Namen sollte so etwas wie ein Lebensprogramm werden. Ein neuer Name, ein ganz nigelnagelneues Leben in der Gemeinschaft der Getauften. Vor einer Woche zum Beispiel haben wir den Johannistag gefeiert: am 24. Juni. Mit Feuern auf den Bergen. Johannistag nach Johannes dem Täufer, dem Vor-Boten und Herold des Messias. Und gestern haben wir - nach dem Heiligenkalender - den Tag des Heiligen Thomas gefeiert. Thomas: Ein sehr verbreiteter Name im Deutschland der 50ziger und sechziger Jahre - und eine unterschätzte Figur im Reigen der biblischen Gestalten. Wir kennen ihn landläufig als den "ungläubigen Thomas", diesen Jünger der immer irgendwie zu spät kommt, wenn etwas Entscheidendes passiert und dann alles in Frage stellt.

Thomas ist in alten Zeiten eigentlich ein Beiname. Unser Jesusjünger Thomas trug in Wirklichkeit den damals sehr verbreiteten Namen Judas. Er hieß Judas und mit Beinamen Thomas. Und Thomas, dieser Beiname, das kommt vom aramäischen Wort  teòma. Das ist das Wort für "Zwilling". Die Gelehrten rätseln nun darüber, ob dieser Judas deshalb "Zwilling" genannt wurde, weil er Jesus wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah, oder ob er womöglich einen Zwilling hatte.

Für mich ist Thomas der Zweifler, dieser Mann mit dem Namen Zwilling, vor allem - ein Zwilling von mir und allen, die es genau wissen wollen. Der Apostel genannt Thomas ist der Zwilling jedes modern denkenden Menschen, der es vorzieht nicht zu glauben, was er nicht sieht, sondern glaubt, was er oder sie sehen und erfassen kann. Thomas der Heilige für alle, die den Zweifel für eine gute und starke Kraft halten, ja im Zweifel den Zwilling des Glaubens sehen. Aber was erfahren wir über diesen Zweifler aus der Bibel? Zum Beispiel diese Geschichte:

Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, da die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren (…), kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen.......

Thomas aber, einer der Zwölf, der Zwilling genannt wird, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann ich's nicht glauben. Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen, und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!

Der "Ungläubige"?

Nicht sehen und doch glauben! Über Generationen wurde diese Geschichte als Mahnung an Thomas gelesen. Als sei der Auferstandene etwas verschnupft über die Zumutung des Thomas die Sache mit der Auferstehung erst dann zu glauben, wenn er die Hände in die Wundmale des Verstorbenen und Auferstandenen gelegt hat. Wenn er sich im wahrsten Sinn des Wortes eigenhändig überzeugt hat.

Als würde Jesus, der Christus, seine Follower nach dem Motto einteilen: die liebsten Anhänger sind mir die, die keine Fragen stellen und blindlings hinnehmen, was ihnen vorgesetzt wird.

Als der "ungläubige Thomas" hat sich dieser fragende Jüngling denn auch in die Geschichte des Christentums eingeschrieben. Es ist unter seinem Namen eine Spruchsammlung erhalten, die das Thomasevangelium genannt wird und nicht in das Neue Testament aufgenommen wurde. Denn diese Schrift erwähnt weder Tod noch Auferstehung Jesu. Und es gibt bis heute Christen in Syrien, im Iran, im Irak, besonders in Indien, die sich nach diesem Apostel "Thomaschristen" nennen und ein Ost-Christentum ganz eigener Art entwickelt haben. Die Legende sagt, Thomas sei als Missionar bis nach Indien gewandert, er habe für den indischen König Gundisar einen grandiosen Palast nach römischem Stil entworfen und sei dort den Märtyrertod gestorben, rücklings sei er erstochen worden.

Der Thomas gilt im Heiligenkalender als der Schutzherr der Bauleute und der Architekten. Der fragende Thomas wird mit dem Winkelmesser dargestellt: Er ist der Schutzherr der Präzisionsberufe. Der Heilige derer, die sich auf die physikalischen Gesetze verlassen müssen und deren Statik halten muss – wenn möglich über hunderte von Jahren. Ein Architekt oder ein Ingenieur oder ein Baumeister kann sich nicht auf Vermutungen verlassen. Er muss wissen, ob die Fundamente, die Wände und das Dach stabil sind und Wind und Wetter trotzen können.

Und: Thomas ist zugleich der Heilige der Religionsgelehrten. Wohl, weil die Gelehrsamkeit in Sachen Religion nur wächst und größer wird, wenn man in allen Glaubensdingen auch den Zweifel zulässt bzw. den Zweifel nicht nur zulässt, sondern pflegt. Den Autoren unserer Evangelien war die Zumutung bewusst, die der Glaube an einen Menschen bedeutet, der den Tod überlebt hat.

Unsere biblische Geschichte vom Thomas-Tag ist für die erzählt, die Generationen nach Christus keine Augenzeugen des Gekreuzigten und Auferstandenen mehr kennenlernen konnten. Wir alle also, die wir zu spät gekommen und geboren sind, um mit dem Mann Jesus und seiner Biographie persönlich bekannt zu werden, wir sind die Zwillinge des Thomas und haben keinen Zugang mehr zu Beweisen aus erster Hand. Thomas, der Frager, er kommt in diesem Gestus noch einmal im Johannesevangelium vor. Als er beim letzten Abendmahl - in der Version des Johannes - Jesus sagt: "Und wohin ich gehe – den Weg dorthin kennt ihr". Da greift Thomas ein und sagt: "Herr, wir wissen nicht, wohin du gehst. Wie sollen wir dann den Weg kennen?" (Joh 14.5)

"Keine Ahnung, Herr"

Wir wissen es einfach nicht! Thomas stellt wieder eine wichtige Frage. Wohin? Wohin führt ein Leben in der Nachfolge Christi? Diese Frage veranlasst dann Jesus, eines seiner berühmtesten Worte auszusprechen: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben." Das Erkennungszeichen sind die Wunden, das lernen wir in dem Bibeltext über den Thomas.

Die Begegnung des Jüngers Thomas mit dem Auferstandenen hat eine Unzahl von Künstlern inspiriert. Michelangelo Merisi da Caravaggio hat wohl das berühmteste Gemälde des Zweiflers geschaffen. Man sieht drei verwegene abgehärmte und zerrissene Fischersleute, wettergegerbt und von Kummer zerfurcht, die um den Auferstandenen herumstehen. Der entblößt seinen Oberkörper und einer der dreien, ein bärtiger Jünger mit Halbglatze bohrt seinen bleichen langen Zeigefinger mit schmutzigen Nägeln in die Wunde des auferstandenen Christus, die wie ein offener Schnitt kurz unter dem Rippenbogen leuchtet. Der Blick des Thomas ist nicht bewundernd, nicht erleuchtet. Er schaut einfach nur nach. Hoch aufmerksam bohrt er in der Wunde, wie ein Arzt. Dieser zu spät gekommene Apostel legt den Finger in die Wunde des Glaubens, scheinbar mitleidlos.

Im Deutschen ist diese Geste zur Redewendung geronnen. Einer, der den Finger in die Wunde legt, der fragt kritisch nach, die meldet Zweifel an der Darstellung einer Sache an, hinterfragt scheinbare Gewissheiten. Eine, die den Finger in die Wunde legt, stört die Sicheren. Thomas könnte eigentlich auch der Heilige der Journalisten sein, dieses Berufstandes, die nichts einfach so gelten lassen können. Die immer Fragen müssen. Denn: Thomas ist der Heilige der Frage.

Der Heilige der Frage

Ich bin immer wieder beeindruckt, dass unsere Bibel die Frage in die Mitte der Auferstehungsgeschichten stellt und damit Thomas, den Zweifler zu einer wichtigen Glaubensfigur werden lässt. Er ist mein Zwilling. Er ist der Zwilling all der Menschen, die einen eigenen Augenschein auf die Dinge nehmen müssen, die sich einen eigenen Eindruck verschaffen wollen, die nichts glauben, was sie nur vom Hörensagen her kennen und nur aus zweiter Hand.

Wir leben in einer Zeit, wo wir die Haltung des Zweifels mehr denn je brauchen. Es liegt auf der Hand, dass ein Geist, der alles zunächst anzweifelt, was er nicht selbst nachgeprüft hat, zwar anstrengend ist, aber wichtiger denn je.

Und auch die Wissenschaften, die wir die empirischen nennen, haben ihren Heiligen in Thomas gefunden: Alles, was wir behaupten in und über die Welt sollte messbar sein. Transparent sollten wir alle wissen, wie ein Ergebnis zustande kommt, das uns Auskunft gibt über die Welt, in der wir uns orientieren müssen.

Wir haben diese Thomas – Diskussion im vergangenen Jahr immer wieder anhand der Corona -pandemie geführt. Immer wieder mussten die Finger auf die Wunden gelegt werden, die der Wissenschaft und die der Politik. Was ist das für eine Krankheit, die sich da rasend schnell um die Erde bewegt? Wie wirkt sie? Wie verbreitet sie sich? Wie ist das mit einem Medikament? Einer Impfung? Wie muss die aussehen? Welche Impfung hat die beste Wirkung? Wir wurden Zeugen einer Operation am offenen Herzen. Die Operation der vielen unbeantworteten Fragen. Wir haben aber auch gemerkt, dass mit Statistik und mit Zählen und mit Messen, viel erreicht ist. Aber nicht alles.

Mit letzter Sicherheit wissen wir auch in der Wissenschaft wenig und wir konnten beobachten, dass die Zahlen und die empirisch ermittelten Fakten, einer Deutung bedürfen. Denn nur wenn ich die Fakten deute und mir die Folgen vergegenwärtige, dann kann ich handeln. Als einzelne und als Familien, als Mütter und Väter waren wir im vergangenen Jahr Teil einer Diskussion darüber, was Wissenschaften wissen können und dass sie nicht immer alles wissen können, dass wir aber dennoch handeln müssen – sozusagen in gutem Glauben.

Glauben heißt nicht wissen, sagt der Volksmund. Und das stimmt, wir müssen eingestehen, dass wir über die Entstehung der christlichen Religion und ihrer Texte zwar viel wissen, dass wir aber dieses Zentrum, diese Begegnung der Jünger und Jüngerinnen mit dem Auferstandenen nicht beweisen können. Wir Nachgeborenen, die wir der Zwilling all derer sind, die sich auf die Berichte und Erzählungen anderer berufen müssen.

Der Zweifler Thomas hat seinen Auftritt mitten in den Geschichten über die Auferstehung.

Der Zweifler und der Verwundete

Könnte das ein Hinweis sein, dass ein Glaube ohne Zweifel nicht zu haben ist? Könnte das ein Hinweis sein, das ein fragloser Glaube gar kein Ziel sein sollte für eine Christin und einen Christen? Was wir über Jesus wissen, ist vor allem, dass er ein leidenschaftlicher Debattierer war. Er versucht Antworten auf die Lebensfragen seiner Zeitgenossen, er erzählt Geschichten, um die Menschen zum Weiterdenken anzuregen. Wenn er gefragt wird, stellt er oft eine Gegenfrage.

Jesus hat uns viele Geschichten hinterlassen von ihm und über ihn. Was er nicht hinterlassen hat, ist ein geschlossenes Gebäude, in das ich mich mit meinem Herzen und Geist einrichten kann wie in einer Wohnstube oder wie in einem Gefängnis.

Die Frage: woran glaubst Du? Ist eine Frage, die im Laufe der Jahrhunderte in einer Art blitzlichthaften Zusammenfassung in ein Glaubensbekenntnis gegossen wurde. Aber das ist eine Frage die nicht aufhört: Wie sagt Thomas? "Wir wissen den Weg nicht!" darauf Jesus: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.

Dieser Jesus ist kein Meetingpoint oder ein Viewpoint. Jesus ist kein Aussichtspunkt in der Geschichte der Menschen, von dem man einen Überblick über die Welt hätte. Jesus verkörpert einen Weg, er verkörpert Begegnung und den Streit um die Wahrheit und er verkörpert das Leben mit all seinen Abgründen und Höhepunkten.

Ein Glaube ist nichts, worin ein Mensch sich einrichten könnte. Glauben heißt: die Fragen nach Gott offen halten. Glauben heißt, wissen, dass es keine abschließenden Antworten auf die Fragen des Lebens gibt. Warum gibt es mich, warum bin ich hier? Was ist Sinn und das Ziel meines Lebens, der Sinn des Lebens auf diesem Planeten? Gibt es Gott? Ist Jesus tatsächlich von den Toten auferstanden? Und wenn tatsächlich, wie genau hat das tatsächlich ausgesehen??

Keiner muss sich seiner Fragen schämen. Oder diese Fragen verdrängen, wegschieben. In unserer Thomasgeschichte entblößt der Auferstandene bereitwillig seinen Oberkörper. Er ist an seinen Wunden erkennbar, nicht an seinem Aussehen. Thomas begreift, dass Gott ein Verwundeter ist. Dieser Gott ist kein makelloser Astralleib. Diese Auferstehung ist auch keine Wiederherstellungsmaßnahme des vorherigen Zustands, sondern dieser Gott des Thomas zeigt uns, dass wir uns an unseren Wunden erkennen werden.

An unseren Wunden werden wir kenntlich. Thomas zeigt, dass die Wunden, die uns in unserem Leben geschlagen wurden, die wichtigsten Merkmale der Gotteserkenntnis sind. "Zeige Deine Wunde" hat Joseph Boys seine Installation im Münchner Lenbachhaus genannt und damit die Welt zu einem Krankensaal erklärt. Wir alle sind zu Zeiten Besucher in diesem Krankensaal und der verwundete Gott, das wollen wir hoffen, ist bei uns.

Es gibt noch eine ganz andere Darstellung des Thomas in der Kunst. Ernst Barlach nennt seine Skulptur der Begegnung des Auferstandenen mit seinem fragenden Jünger "Wiedersehen". Wie ein Liebespaar sehen sie aus: der hartnäckig Fragende und der Verwundete. Es scheint, als würde Jesus, den Thomas halten. Es scheint als würden dem Thomas die Beine wegknicken. Als würden ihm die Knie weich, als er die Hände in die Wunden legt. Der verwundete Jesus hebt den Zweifler auf und hält ihn fest. Barlach stellt in Thomas einen Mann vor, der überwältigt ist von der Erkenntnis Gottes.

Könnte es vielleicht sein, dass wir mit der Sprache der empirischen Fakten in der Religion nicht weiterkommen? Könnte es sein, dass unser Glaube mit dem Winkelmesser des Thomas nicht vermessbar ist? Könnte es sein, dass es vermessen wäre, die Gottesfrage auf diese Weise beantworten zu wollen?

Ich weiß nur, dass mein Glaube und mein Leben durch die Frage nach Gott lebendig bleiben. Ich weiß auch, dass im Leben fragen wichtiger ist als antworten, denn Fragen treiben uns weiter auf dem Weg zur Erkenntnis und auf dem Weg zu Gott. Der Zweifel ist damit der Zwilling des Glaubens und der fragende Thomas ist mein biblischer Zwilling. Er lebe hoch oder Halleluja auf ihn.

 

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

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