Viel Licht, helles Holz. Immer frische Blumen am Eingang. Ein grüner Innenhof, von Glas eingefasst. Von der Terrasse aus sieht man auf den dichten Wald. Hohe Tannen und Fichten, immergrün. Im Aufenthaltsraum gibt es jeden Tag selbst gebackenen Kuchen, es riecht nach Kaffee. Im Regal stehen Bücher und Brettspiele liegen auf dem Schrank neben dem großen Fenster. Hier würde es mir auch gefallen, denke ich für einen Moment und korrigiere mich sofort… Wenn es sein muss.
Das Hospiz, das ich seit ein paar Wochen jeden Freitagnachmittag besuche, ist ein friedlicher Ort. Soll es sein. Es soll keine Angst machen, keine Beklemmung auslösen, weder bei den Menschen, die ihre Angehörigen hier besuchen, noch bei den Menschen, die in der gleichen Straße hier in der Siedlung wohnen.
Es soll nicht nach Krankenhaus oder Pflegeheim riechen, in allen Zimmern und auf dem Gang stehen Duftlampen oder ein Diffusor. Statt nach Desinfektionsmitteln, Säure oder zerkochtem Gemüse riecht es hier nach Orange oder Lavendel.
Wer hier lebt, wird sterben
Sanft und zart ist die Atmosphäre, liebevoll und zuversichtlich. Vielleicht auch, weil es in den Seelen und Köpfen der Bewohner*innen eben nicht so aussieht. Nicht immer, manchmal auch schon, manchmal gar nicht. Wer hier lebt, wird sterben. Wird Schmerzen haben, die gelindert werden müssen, immer weniger selber können, immer mehr Hilfe brauchen. Wer hier lebt, ist wunderbar versorgt – und trotzdem kommt der Tod. Er kommt und beendet Träume. Enttäuscht Hoffnungen. Nicht nochmal nach Hause zu den geliebten Katzen. Nie wieder auf einem Berggipfel stehen. Sich nicht mehr um die Tochter kümmern, die so viel zu tragen hat. Das Enkelkind nicht aufwachsen sehen.
Ich höre viel Traurigkeit. Ich höre Reue, Sehnsucht und tiefes Bedauern. Manchmal auch Angst vor dem Sterben, aber eigentlich weniger, als ich dachte. Ich höre auch Dankbarkeit und Liebe, ich sehe Fotos von Kindern bei der Einschulung und gerahmte Hochzeitsbilder. Die Zimmer der Bewohner*innen sind voller Leben, dem gelebten und dem ungeliebten Leben. Alle Menschen hier verbindet das Eingeständnis, dass es jetzt nicht mehr lange dauert. Dass der Tod sich nicht aufhalten lässt. Es ist ein Eingeständnis, keine Zustimmung. Es ist ein "Ich rechne damit", kein "…und das ist gut so."
Man kann am Leben hängen und trotzdem den Tod akzeptieren. Und vielleicht ist es das, was mir am meisten nachgeht, wenn ich nach zwei Stunden wieder nach draußen gehe und auf mein Fahrrad steige. Ich kann dieses Leben lieben, es leben wollen und trotzdem manchmal eine tiefe Traurigkeit darüber spüren, dass manche Lebensentscheidungen für immer getroffen sind. Es sind viele kleine, leise Abschiede, die wir erleben. Entscheidungen, die das eine möglich machen, etwas anderes ausschließen. Manchmal für immer. "Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen", hat Martin Luther gesagt. Es ist nicht immer der große Tod, das Ende unseres Lebens, den wir spüren. Das wäre ja auch schwer auszuhalten, wenn wir jeden Tag "im Angesicht des Todes" leben würden.
Wir haben nur dieses eine Leben
Aber gleichzeitig üben wir uns immer wieder im Entscheiden, im Loslassen. Wir streichen sanft über alte Bilder, ziehen entschlossen so manchen Schlussstrich und steigen beherzt in den nächsten Zug ein. Manchmal blitzt die Erkenntnis dann in uns auf: Wir haben nur dieses eine Leben. Und es will von uns gelebt werden.
Wir können ein spätes Bedauern nicht verhindern und nicht alle verpassten Chancen nachholen. Wir werden trauern müssen, vermissen. Es wäre eine maßlose Überforderung, alles in diesem Leben auskosten zu müssen, weil es doch jederzeit vorbei sein kann.
Denn da gibt es noch einen Raum zwischen Bedauern und dem dankbaren, lebenssatten Loslassen: In diesem Raum riecht es nach Orange und Lavendel. Hier stehen Bilder unseres Lebens, Erinnerungen, die nie verblassen werden. Das Gefühl, vom Geliebten in den Arm genommen zu werden. Der Geschmack von Erdbeermarmelade auf frischem Brot. Alles ist da, nebeneinander. Verbunden von einem leisen, aber spürbaren Ziehen in unserem Herzen.
In diesem Raum kann ein Leben zu Ende gehen, das nicht alles geschafft hat. Ein Leben, das nicht abgeschlossen wird, sondern sich zum Himmel hin öffnet. Zu Gottes Gnade und Liebe hin.