Kürzlich war ich zu Besuch in Berlin und habe dort einen Gottesdienst besucht. Ja, es gibt sie noch in der angeblich so gottlosen Hauptstadt. Mein Besuch in der Samariterkirche fiel auf den Israelsonntag, und so ging es in der Predigt der Pfarrerin um das Judentum.
Eine Passage fand ich besonders interessant. Die Pfarrerin sprach über die Tatsache, dass wir Christ*innen mit den Psalmen auf jüdische Gebete zurückgreifen. Sie benutzte nicht den Begriff "kulturelle Aneignung", aber als sie mahnte, den Ursprung und die Bedeutung dieser Gebete zu respektieren, sie als geliehen und nicht als eigenen Besitz zu betrachten, kam er mir unwillkürlich in den Sinn.
Kulturelle Aneignung wird oft mit Austausch verwechselt
Die Debatte um kulturelle Aneignung wird in Deutschland meist, sagen wir, unterkomplex geführt. Das ist zunächst nicht verwunderlich, denn es handelt sich um einen Begriff, der sich nicht auf Anhieb erschließt. Oft wird "Aneignung" mit "Austausch" verwechselt. Zudem stellt er einige vermeintliche Gewissheiten infrage, und das geht selten geräuschlos über die Bühne.
Ärgerlich ist jedoch die genüssliche Ignoranz mancher Diskussionsteilnehmer/innen, die versuchen, das Konzept als Ganzes ins Lächerliche zu ziehen. Besonders beliebt sind falsche Zuspitzungen wie: "Heißt das, dass die Deutschen nur noch Bratwurst und Schnitzel essen dürfen und keinen Döner mehr?" Nein, das heißt es natürlich nicht.
Beispiel der Psalmen zeigt, worum es geht
Das Beispiel der Psalmen zeigt sehr gut, worum es eigentlich geht: um Respekt. Christ*innen dürfen die Psalmen beten, ebenso wie Angehörige anderer nichtjüdischer Religionen. Niemand verbietet es ihnen. Sie dürfen auch, wie es beim Christentum geschehen, Teil des eigenen Kanons werden. Was nicht geht, ist, die Herkunft und Bedeutung der Gebete für das Judentum einfach zu verschweigen, auszublenden oder gar bewusst unsichtbar zu machen (was antisemitisch wäre).
Und was für die Psalmen gilt, gilt auch für viele andere Ausdrucks- und Erscheinungsformen, die sich vielleicht am besten unter dem Begriff Kulturerbe zusammenfassen lassen. Bestimmte Frisuren gehören ebenso dazu wie Speisen, Kleidung ebenso wie Musik.
Eminem hui, Elvis pfui
Bleiben wir kurz bei der Musik: Der weiße Musiker Elvis hat seinen Stil von Schwarzen Amerikaner*innen kopiert, ohne jemals darauf hinzuweisen oder wenigstens Respekt zu zollen. Erschwerend kommt hinzu, dass er mit der Musik, die er sich angeeignet hatte, reich und berühmt wurde, was Schwarzen Rock'n'Roll-Musiker*innen in den USA zu seiner Zeit weitgehend verwehrt blieb.
Der weiße Rapper Eminem hingegen hat immer wieder seine schwarzen Vorbilder benannt, Hip-Hop als afroamerikanische Kultur anerkannt und seine Privilegien als Weißer selbstironisch reflektiert. Im Song "White America" rappte er: "Let's do the math, if I was black I would have sold half"(deutsch: "Rechnen wir mal, wenn ich schwarz wäre, hätte ich nur die Hälfte verkauft"). Auch er ist reich und berühmt geworden, aber nicht auf Kosten anderer, die aufgrund rassistischer Strukturen daran gehindert wurden. Heute sind die reichsten und erfolgreichsten Rapper*innen zum größten Teil Schwarz (zumindest in den USA).
Es geht also bei kultureller Aneignung nicht um plumpes Draufhauen. Es geht um Nuancen, um Zwischentöne. Um einen sensiblen, angemessenen Umgang mit Kulturgütern und nicht um eine selbstherrliche, kolonialistische Aneignung nichteuropäischer Kulturleistungen ohne Respekt vor deren Wurzeln und deren Urheber*innen.
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