Fehler sind Abweichungen von der Regel - und somit per se interessant, findet Franziska Kunze. Die Sammlungsleiterin für Fotografie und Zeitbasierte Medien an der Münchner Pinakothek der Moderne hat eine Ausstellung mit dem Titel "Glitch. - Die Kunst der Störung" kuratiert, die noch bis 8. März 2024 zu sehen ist. Die gezeigten Fotografien und Installationen erheben Fehler zur Kunstform - eine Einladung, "die Herzen zu öffnen für alles, was zunächst abwegig erscheinen mag", sagt Kunze. Ein Gespräch zum Jahresbeginn über das kreative Potenzial von Fehlern, den Erkenntnisgewinn des Scheiterns und ein Konzert mit kaputten Instrumenten.

Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrgehänge, Monets Seerosen: Viele große Gemälde der Kunstgeschichte zeigen perfekte Schönheit. Ist das das Ziel von Kunst?

Kunze: Das Beispiel Monet zeigt eigentlich ganz gut, dass Schönheit oft erst in der Rückschau entsteht. In seiner Zeit stieß Monets Art zu malen - wie der Impressionismus generell - nicht auf Gegenliebe. Zu groß war der Bruch mit den geltenden Regeln. Die gesamte Entwicklung vom Naturalismus über den Impressionismus hin zum Expressionismus war davon geprägt, dass sich die neuen Formen von Schönheit erst ihre Anerkennung erkämpfen mussten. Sich gegen die Regeln zu stellen, galt in jeder Kunstepoche zunächst als "falsch" - womit man sich automatisch in der Kategorie der "Fehler" wiederfindet.

Welchen Stellenwert hat der Fehler in der Kunst?

Kunze: Der Versuch und das Prinzip "Trial-and-Error" haben immer eine Rolle gespielt. Eine besondere Rolle nimmt dabei die noch recht junge Kunstform der Fotografie ein, die als Alltagsmedium im Gegensatz zur Malerei und Bildhauerei lange gebraucht hat, um überhaupt den Status von "Kunst" zu erringen. Parallel wurden Regelwerke aufgestellt, damit mögliche Fehler beim Fotografieren oder Entwickeln vermieden oder hinterher wieder korrigiert werden konnten. Sicherlich ist es dieser steten Suche nach dem "perfekten" Bild zu verdanken, dass sich die Fotografie so rasant weiterentwickelt hat.

Aber gleichzeitig wurde dadurch auch die Kreativität massiv eingeschränkt. Und dennoch gab es schon früh Künstlerinnen und Künstler, die sich bewusst gegen die Regeln der Ratgeberliteratur stellten. Ihr Antrieb war eine wundervolle Neugierde darauf, mit welchen Methoden sie andere Seiten der Fotografie erkunden und dadurch ihr Medium noch besser kennenlernen könnten.

Sie haben sich die Ausstellung "Glitch. - Die Kunst der Störung" in der Pinakothek der Moderne ausgedacht und gestaltet. Warum finden Sie Fehler so faszinierend?

Kunze: Weil sie einen unglaublich aktivieren. Wenn man eine technische Störung, zum Beispiel ein eingefrorenes Computerbild, beheben will, muss man manchmal um die Ecke denken, man muss Um-denken. Viele Kunstschaffende, die wir in unserer Ausstellung zeigen, machen das in ihren Werken vor - manchmal frech, immer überraschend, oft einfach. Ich wollte das wertschätzen, denn gerade die älteren Positionen seit den 1950er-Jahren sind selten, manchen sogar noch nie sichtbar geworden. Dabei können "fehlerhafte" Fotografien Themen ausdrücken, die man mit einem "perfekten" Bild nicht zeigen kann - zum Beispiel Depression oder auch Strahlenkrankheit.

Denn wie will man das Unsichtbare sichtbar machen, ohne dabei ins platt Symbolische abzudriften? Kazuma Obara schafft das zum Beispiel in seiner Fotoserie über Tschernobyl, indem er der Radioaktivität ausgesetztes und mittlerweile abgelaufenes Filmmaterial zum Fotografieren nutzte und entwickelte. Die Fotografien seiner dokumentarischen Serie aus den Jahren 2015/16 weisen alle einen Schleier auf - sie machen ein unsichtbares Phänomen sichtbar und thematisieren auch die psychischen Auswirkungen der Strahlenaktivität auf eine junge Frau, die seit ihrer Geburt 1986 unter den Folgen leidet.

Was haben Sie durch die Arbeit an der Ausstellung allgemein über Fehler gelernt?

Kunze: Im gesamten Team hat sich etwas verändert. Bei jeder Panne in der Ausstellungsvorbereitung haben wir gelacht und gesagt: War alles geplant! Mir selbst ist noch deutlicher geworden, dass es Perfektion nicht gibt. Wer sollte denn auch bestimmen, was perfekt ist? Ohne Fehler würden wir uns nicht weiterentwickeln. Man kann deshalb Missgeschicken auch mit einer gewissen Gelassenheit gegenübertreten.

Franziska Kunze Sammlungsleiterin für Fotografie und Zeitbasierte Medien an der Münchner Pinakothek
Für einen offeneren Umgang mit Störungen, Fehlern und Versagen wirbt die Kunsthistorikerin Franziska Kunze. Sie hat die Ausstellung „Glitch. – Die Kunst der Störung“ in der Pinakothek der Moderne kuratiert.

Hat die Beschäftigung mit dem Thema Fehler auch Auswirkungen auf Ihren Alltag, Ihre persönliche Haltung gehabt?

Kunze: Ich versuche, öfter über Malheurs zu schmunzeln - man muss nicht wegen jeder Kleinigkeit schlechte Laune bekommen. Natürlich gibt es auch echt ärgerliche Fehler oder solche mit fataler Auswirkung, das kann man nicht schönreden. Aber ich glaube, dass man in den meisten Fällen etwas für sich herausziehen kann - und wenn es nur die Erkenntnis ist: "Das passiert mir bestimmt nicht noch mal." Insgesamt denke ich, dass wir viel offener übers Versagen reden sollten. Sonst fangen wir immer wieder bei Null an, weil wir nicht aus den Fehlern anderer lernen konnten. In manchen Forschungsbereichen werden Ergebnisse nicht veröffentlicht, wenn das zugrundeliegende Experiment gescheitert ist. Was für eine Verschwendung von Zeit und Ressourcen! Denn wenn es den "Versagensbericht" gäbe, müssten andere Forscherinnen und Forscher nicht dieselben Fehler wiederholen und erneut scheitern. Ich fände es viel effektiver, sich in der Gesellschaft nicht nur über die "best practice"-Beispiele auszutauschen, sondern auch über die "worst practice"-Beispiele, wo etwas richtig danebengegangen ist.

Für diese Idee gibt es das Format der "Fuck up Nights", bei denen Geschäftsleute von ihren größten Katastrophen berichten …

Kunze: … dafür darf man nicht eitel sein und sich nicht zu ernst nehmen. Ich finde Menschen großartig, die das können. Denn es zeigt auch, dass große Erfolge immer gesäumt sind von vielen kleinen oder auch größeren Misserfolgen. Bei den Fuck up Nights sieht man: Alle kochen nur mit Wasser.

Am 8. März gibt es zur Finissage der Ausstellung ein Konzert mit kaputten Instrumenten - wie schön kann das werden?

Kunze: Das wird toll. Wir haben die Münchnerinnen und Münchner gebeten, uns ihre kaputten oder verstimmten Instrumente dafür zu leihen. Es war für mich als Norddeutsche interessant, was da alles abgegeben wurde - Hackbretter beispielsweise! In München gibt es auch viele kaputte Violinen und Akkordeons, und noch viele andere Instrumente natürlich. Die Komponistin Maya Dunietz hat dafür die Symphonie "Broken two" verfasst. Studierende der Hochschule für Musik und Theater werden gemeinsam mit der Dozentin Hanni Liang versuchen, den Instrumenten Töne zu entlocken. Auf einer Geige ohne Seiten kann man ja vielleicht auch Klopfgeräusche machen - das wird sicher eine ungewöhnliche Klanglandschaft.

Neujahr ist die Zeit für Vorsätze, die meistens nach wenigen Wochen schon wieder Makulatur sind. Wie lautet Ihr Plädoyer für Fehler, Störungen und Versagen?

Kunze: Alle, die heute noch Vorsätze formulieren, tun das doch ohnehin meistens in dem Wissen, dass es eh nicht klappt. Ich finde, wir sollten gnädiger mit uns sein. Dass etwas nicht funktioniert, ist doch eigentlich der Normalzustand.

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