Viele Jahre lang war Werner Schroth in der Freien Wirtschaft tätig, hatte Personalverantwortung und bewegte viel Geld und Waren. Das ist lange her. Er könnte sich, wie viele gleichaltrige Freunde aus dieser Zeit, um sein großes Haus und Garten kümmern, sich mit den alten Kumpels zum Golfen treffen und anschließend in alten Zeiten schwelgen, als jeder noch wer war. Golf und Tennis spielt Werner Schroth tatsächlich gerne noch. Aber auf den Rest hat er keine Lust.
Statt in der Vergangenheit zu schwelgen, schließt er lieber zwischen Ostern und Mitte Oktober täglich die Tür zur Pilgerherberge der schwäbischen Marktgemeinde Scheidegg (Dekanat Kempten) auf, die es seit 2007 gibt. 18 Betten, aufgeteilt in zwei Schlafräumen findet man dort vor, nebst einem geräumigen Saal, modernen Duschen und WCs sowie einer multifunktionalen Küche. "So etwas gibt es in ganz Bayern nur einmal", sagt Schroth lachend, der hier seit sieben Jahren seine anderen Hobbys Kochen und Musikspielen eng mit seiner Liebe zu anderen Menschen verknüpft. "Es erfüllt mich und ist eine sinnstiftende Tätigkeit", findet er.
Pilgerherberge in Scheidegg
Stolz ist auch Pfarrer Uwe Six auf die Pilgerherberge, die mitten im Ensemble aus Auferstehungskirche, Gemeinderäumen und Pfarrhaus idyllisch nahe den Bergen liegt - und sich seit 2007 zu einem Geheimtipp in der Pilger-Szene entwickelt hat. Als Mitte der 2000er-Jahre entsprechende landeskirchliche Fördermittel frei geworden waren, habe man in der Gemeinde den damals schon spürbar wiedererwachten Trend zum Pilgern aufgenommen und die gemütliche Herberge gebaut, auf deren Ausstattung und Komfort manches Tagungszentrum stolz wäre. "Die Menschen fühlen sich hier sehr wohl, das spricht sich herum", sagt Six.
In der Regel bleiben die Pilger nur einen Tag hier, bevor es zur nächsten Etappe geht. 26 Euro müssen für Übernachtung mit Frühstück berappt werden. Das aufwändige Abendessen, das Werner Schroth kredenzt, ist kostenlos, es werden Spenden erbeten. Tolle Gespräche kämen meist an den Abenden zustande. "Das gehört auch zur Seelsorge mit dazu", ist der Pfarrer überzeugt. Um die kümmert sich aber meistens Schroth. "Wenn jemand nach vielen Kilometern Fußmarsch hier endlich seine Schuhe ausziehen und seinen Rucksack ablegen kann, dann kehrt sich auch bald danach der innere Ballast nach außen", berichtet er.
Die Menschen, die sich auf den Jakobsweg machen, seien eigentlich auf einem Weg zu sich selbst, weil sie sich irgendwann im Leben verloren hätten. Frauen schnürten sich meist die Wanderschuhe, wenn sie eine beendete Beziehung verdauen müssen. Männer in der Regel, wenn der Druck im Job zu groß geworden ist oder sie sich nach der Rente nicht in den neuen Alltag einfinden können. Für alle gleich sei aber, dass aller Anfang schwer ist. "Die ersten Tage meldet sich der Körper zu Wort und fragt das Hirn, warum man sich das eigentlich antut." Wenn die Schmerzen überwunden sind, könne das Pilgern erst richtig losgehen.
Jakobspilgern ist in der katholisch geprägten Region um Scheidegg schon ewig Tradition. "Die äußerliche Bewegung bringt vieles im Inneren in Bewegung", meint Pfarrer Six. Teils wandere man auf Wegen, auf denen schon seit Jahrtausenden Menschen gebetet haben - diese spirituelle Kraft würde auch immer wieder die heutigen Pilger inspirieren. Mehr als zwei Drittel der Gäste sind zwischen 45 und 60 Jahre alt. Sie haben sich alle ins Buch eingetragen, das in der Herberge ausliegt. Immer wieder aufs Neue rührt Schroth die Aussage einer Über-90-Jährigen, die immer wieder kommt. "So lange ich lebe, pilgere ich", hat sie geschrieben.
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