Spiritualität ist in, Spiritualität ist allgegenwärtig – nicht nur im religiösen Bereich. Der wachsende Markt für Coaching, Wellness und Selbstverwirklichung ist ohne den Begriff der Spiritualität gar nicht mehr denkbar. Die Bandbreite reicht vom Angebot des Benediktiners Anselm Grün bis zur Seelenwellness einer Laura Malina Seiler.

Der Begriff steht für vieles, wird eher für das religiös Vage verwendet oder sogar in Abgrenzung zu Glaube und Religion. Doch ursprünglich stammt der Begriff aus der christlichen Tradition. Kann er neu gefüllt und belebt werden? Dass christliche Spiritualität reichhaltig und lebendig ist, erfährt man im neuen Onlineportal "ganzhier" der bayerischen Landeskirche.

50 Wege zur spirituellen Erfahrung

Auf der ansprechend gestalteten Website finden sich um die 50 Wege zu spirituellen Erfahrungsräumen, die den unterschiedlichen Bedürfnissen und Sehnsüchten gerecht werden sollen. Doch weil nicht alles für jeden passt, kann man durch einen Selbsttest das Angebot profilieren. Gleich auf der Startseite fragt ein oranger Button "Welcher Spiritualitätstyp bist du?".

Wer sich die zwei Minuten Zeit nimmt und durch die Fragen klickt (Machst du gerne Musik?, Wohin zieht es dich, wenn es regnet? Magst du lieber Schweinsbraten oder Veggie-Burger? … ), erfährt, wie er/sie spirituell tickt. Je nach Typ (Kopf/Herz/Bauch/Hände/Füße) werden passende Angebote aus dem Bereich der Landeskirche vorgeschlagen. Meistens entstehen beim Test Kombinationen, zum Beispiel "Herz und Füße" oder "Kopf und Herz". Auch Dreier-Kombinationen wie etwa "Herz-Kopf-Hand" sind möglich.

"Da ist nichts Weltabgewandtes"

Interview mit Andrea Heußner über "ganzhier"

Andrea Heußner begleitet das Onlineportal "ganzhier". Sie leitet das Referat "Spiritualität und Generationen" in der bayerischen Landeskirche.

Am 6. November ging "ganz hier" online. Wie ist denn die Resonanz auf die Inhalte?

Andrea Heußner: Die Reaktionen sind bisher durchweg positiv. Von vielen Seiten kam die Rückmeldung, dass die Seite frisch und ansprechend ist. Die Vielfalt evangelischer Spiritualität wird sichtbar. Einige Male gab es den Hinweis, "da fehlt noch was". Das hören wir gerne, denn das Portal soll weiterwachsen. Es lebt von Kommunikation und Beteiligung.

Wie wird die Seite angenommen?

In den ersten beiden Wochen sind knapp 11 700 Menschen dem Reel von bayern-evangelisch gefolgt. Es gab mindestens 3000 Besucher und 15 000 aufgerufene Seiten. Über 1000 Besucherinnen und Besucher haben den Test "Welcher Spiritualitäts-Typ bist du?" gemacht. Die durchschnittliche Verweildauer ist insgesamt sehr hoch.

Welches Ziel verfolgt die Landeskirche mit der neuen Website?

Es sind drei Ziele. Unser Webportal will sichtbar machen, welche großartigen Angebote und Initiativen lebendiger Spiritualität es in unserer Landeskirche gibt – in aller Vielfalt, Tiefe und Weite. Dieser Schatz soll auffindbar sein! Zweitens wollen wir Menschen miteinander vernetzen, die bereits im Bereich Spiritualität unterwegs sind. Und drittens wollen wir Spiritualität erfahrbar machen. Auf dem Webportal sind konkrete Menschen zu erleben, die ihren Weg gefunden haben und mit Herzblut leben. Im Magazin findet man außerdem hilfreiche Links, Reportagen, Interviews und Do-it-yourself-Material, um verschiedene Wege kennenzulernen und zu erproben.

Soll da eine Community entstehen?

Das kann sich entwickeln. Erst mal wollen wir mit Menschen in Kontakt kommen, die auf dem Webportal unterwegs sind. Es gibt deshalb immer wieder Gelegenheit zur Interaktion. Erste Besucherinnen und Besucher haben schon gebeten, Kommentare und Antworten sichtbar zu machen, damit es zu einem Austausch kommen kann.

Ein besonderes Angebot ist der Test "Wie tickst du spirituell?".

Dreh- und Angelpunkt des Webportals ist die Frage "Was ist dein Weg?". Also: Was hilft dir, dein Herz zu öffnen? Wie kommst du mit dir selbst und mit Gott in Verbindung? Wir haben einen Typen-Test entwickelt, der helfen kann, erste Antworten zu finden. Mit dem Ergebnis werden passende Angebote vorgeschlagen, die es in unserer Kirche gibt. Wir zeigen fast 50 Wege zu spirituellen Erfahrungsräumen, die den unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht werden sollen.

Wie kamen Sie auf den Namen ?

Beide Worte sind für den Begriff christlicher Spiritualität von Bedeutung. Das "hier" betont die Erdung christlicher Spiritualität. Sie entführt uns nicht in andere Sphären, sondern nimmt uns hinein in Gottes Gegenwart im Hier und Jetzt. Und sie gibt uns die Kraft, diese Gegenwart zu gestalten. Da ist nichts Weltabgewandtes. Das "ganz" meint den ganzen Menschen. Der Protestantismus spricht traditionell über das "Wort" den Verstand des Menschen an. Christliche Spiritualität meint jedoch den ganzen Menschen, mit Kopf, Leib und Seele.

Pilgern, Yoga, Qi Gong

Bei den ausgewählten spirituellen Wegen zeigt sich eine Vielfalt, die einen erst einmal staunen lässt. Die Bandbreite geht über die kontemplativen Angebote in den evangelischen Kommunitäten über evangelisches Pilgern bis zu Yoga und Qi Gong. Im Bereich des christlichen Glaubens, erfährt man, lasse sich Yoga als mystisch-kontemplativer Weg beschreiben, auf dem Gottes Geistkraft erfahrbar werde.

Die traditionelle chinesische Praxis des Qi Gong helfe mit sanften Bewegungen, Atemübungen und Meditation dabei, Körper und Geist in Einklang zu bringen. In der christlichen Variante werden etwa Psalmworte mit den fließenden Bewegungen des Qi Gong verbunden. Das Zusammentreffen von Wort und Bewegung lasse biblische Worte tief in den Körper sinken, bis zur "Verkörperung von Gottes Wort in uns, das in unserem alltäglichen Leben weiterwirkt".

Keltisch, aber christlich

Tut sich hier ein neuer Synkretismus auf? Sicher nicht, denn es sind Körpertechniken, die in den Dienst christlicher Spiritualität gestellt werden. Aber dann gibt es den Button "Keltische Spiritualität". Wird es jetzt esoterisch? Nein, wird es nicht. Es geht um irische Segenssprüche, die im keltischen Christentum wurzeln, das insbesondere in Irland, Schottland, Wales und Teilen Frankreichs entstanden ist.

Dort entwickelte sich eine eigene Art der Spiritualität, in der keltische Naturverbundenheit mit dem christlichen Glauben verbunden wurde: Die Schöpfung wird als ein Weg verstanden, Gottes Gegenwart zu erleben. Wer sich nach einer tiefen spirituellen Verbindung mit der Natur und einem zyklischen Lebensverständnis sehnt, findet hier seinen Weg.

Wilde Kirche

In eine ähnliche Richtung geht das Angebot der "wilden Kirche", für die im Portal ein Zitat verwendet wird, das dem Salish-Anführer Seattle zugeschrieben wird: "Wir sind ein Teil der Erde und sie ist ein Teil von uns", heißt es dort.

Die "Church of the Wild" hebt hervor, dass Gottes Gegenwart auch jenseits von Gebäuden, Traditionen und festgelegten Strukturen erfahrbar ist. Man trifft sich deshalb zum Gottesdienst im Wald, auf einem Feld oder an Flüssen und Seen. Das Spüren des Winds, das Rauschen der Blätter und das Hören von Vogelstimmen machen die spirituelle Bindung zur Schöpfung Gottes erlebbar.

Auch klassische Felder wie etwa die Posaunenchorarbeit werden vorgestellt. Wie dort Spiritualität erlebbar ist? Es ist ganz einfach die reformatorische Idee, dass der Glaube durch Gemeinschaft und Musik erfahrbar wird.

Drei Stärken von "ganzhier"

Die Stärke von "ganzhier" zeigt sich erstens darin, dass Menschen über ihre spirituellen Erfahrungen berichten. Etwa wenn sie in zweiminütigen Videos die Grundbegriffe der Spiritualität entfalten, wie "Stille", "Rituale", "Wort" oder "Natur". Zu Wort kommen evangelische Christen, die ihren Weg gefunden haben und die Suchende inspirieren können.

Im Portal wird zweitens deutlich, dass Spiritualität mitten im Alltag gelebt werden kann. "Ganz hier" sein – in der Gegenwart Gottes – mit jedem Atemzug, auch beim Spülen der Töpfe und Pfannen, wie es die Mystikerin Teresa von Avila formuliert hat.

Drittens wird in der spirituellen Polarität von Aktion und Kontemplation der Bereich der Weltverantwortung nicht ausgespart. Der Münchner Pfarrer Alex Brandl bringt es auf den Punkt, wenn er in einem der Videos sagt:

"Es gibt dieses Klischee, dass Menschen, die sich mit Spiritualität beschäftigen, immer nur um sich selbst kreisen."

Es ist das Gegenteil, sagt Brandl: "Die Verbundenheit mit sich führt zu einer Verbundenheit mit der Welt. Und der Weg dahin ist die Verbundenheit mit Christus."

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