Mein lieber Sohn

In jedem Krankenhaus gibt es diese Pinnwand für Geburtsanzeigen irgendwo auf der Geburtsstation. Eine bunte Collage mit viel freundlichem Rosé oder Lila, hellblau oder weinrot. "Emil Max, geboren am soundsovielten, soundso schwer". "Wir freuen uns über die Geburt unserer Tochter Hanna". Das Foto eines verknautschten oder schon ent-falteten, wunderbaren Kindes. Handschriftlich ein paar persönliche Worte für diejenigen, die Mutter, Kind und Vater begleitet und medizinisch versorgt haben.

Wie viel Glück! Ein Herzenswunsch wurde Wirklichkeit - und ein Wunder. Und dieser Glücksausdruck landet auch in den Briefkästen von Freundinnen und Verwandten – auch wenn die natürlich schon längst viele Bilder über WhatsApp bekommen haben.

Ich bin Vater von vier, bald fünf Kindern. Und ich weiß: Geburtsanzeigen helfen uns Eltern zu begreifen und zu feiern: "Unser Kind!"

Auch Josef und Maria, die Eltern von Jesus, werden irgendwann diesen Satz geflüstert haben: "Unser Kind". Als sie ihren neugeborenen Bub im Arm halten und diesen unvergleichlichen Duft nach Babyhaut und Babyhaar einatmen: "Unser Kind. Unser lieber Sohn".

Eine Geburtsanzeige gab es nicht. Erst später wird das ganze schriftlich. Nach vielen Jahrzehnten sammeln die Christinnen und Christen über Jesus, was es so gab an Erzählungen und Erinnerungen. Sie tragen alles zusammen, schreiben nach und nach auf. Auch den Satz: "Das ist mein lieber Sohn". Das ist ein Satz wie für eine Geburtsanzeige.

Als das erstmals aufgeschrieben wird im Markusevangelium, sprechen diesen Satz nicht Maria oder Josef, von der Geburt Jesu ist dort nirgends die Rede. Sondern die Christ:innen erzählen, dass Gott das gesagt hat. Dass einige von ihnen Gottes Stimme gehört hätten, als Jesus hüfttief im Jordan steht und von Johannes getauft wird. Oder als sie mit Jesus auf einen Berg wandern, oben auf dem Gipfel hätte es in ihren Ohren geklungen: "Das ist mein lieber Sohn."

Das Prequel – unsere Geschichte

Seit ein paar Wochen läuft in den Kinos der Film "Wonka"– ich will ihn mir mit meinen Kindern in den Ferien anschauen

"Wonka" erzählt die Geschichte eines Schokoladenherstellers, ein magischer, kinderlieber Phantast – und die Sache verspricht ein typischer "Weihnachtsfilm" zu sein. Genau die Art fantastisches Märchen, wie es viele mit dem Dezember verbinden.

Dieser Film ist das, was man in der Branche ein "Prequel" nennt. Das ist die Fortsetzung einer Geschichte. Aber keine Fortsetzung unter dem Motto "Was danach geschah". Sondern unter dem Motto: "Was davor geschah". "Wonka" ist die Vorgeschichte zu "Charlie und die Schokoladenfabrik", ein Kinderbuchklassiker aus den 1960er Jahren.  Vielleicht kennen Sie das Buch – oder den Film.

Komische Sache so ein Prequel: Da fehlt doch die Spannung! Man weiß schon vorher, wer mit wem zusammenkommt, wer leben oder sterben wird. Und trotzdem: Prequels können einen in den Bann ziehen. Gerade weil ich weiß, wie es weitergeht! Begeistert entdecke ich Personen, die ich schon "aus der Zukunft" kenne! Ich stoße auf Charakterzüge meines Helden, die schon angelegt waren in der Jugend oder bei den Vorfahren. Ich höre von Beziehungen, von denen ich weiß: Die werden später noch mal eine Rolle spielen.

Und durch all das sehe ich den eigentlichen, den ursprünglichen Film noch mal neu.

Irgendwann haben die christlichen Schriftsteller das Prequel zum Leben Jesu gestaltet. All die gesammelten Erzählungen, die wir heute "Weihnachtsgeschichten" nennen. Oder: "Kindheitsgeschichten". Und so wird aus dem Satz "Das ist mein lieber Sohn" eine filmreife Story:

Eine schwangere junge Frau und ihr Verlobter. Eine vom römischen Diktator angeordnete Reise nach Bethlehem. Ein Stall als einziger privater Ort, wo Maria das Kind gebären könnte, die Stadt ist ja gepackt voll. Hirten und Engel. Und in einer anderen Version des Prequels: ein Stern und Sterndeuter, aus denen das Mittelalter drei Könige gemacht hat. Der fiese Herrscher Herodes, der die Kinder verfolgen und umbringen lässt, ein Weg nach Ägypten und zurück.

Jetzt sagen manche Filmpuristen: Wozu das alles? Wozu Fortsetzungen – egal ob die Handlung danach oder davor spielt? Fortsetzungen sind doch immer schlechter als das Original!

So ähnlich geht es vielen Menschen mit der Weihnachtsgeschichte: "Was sollen wir bitte damit? Ist das überhaupt so gewesen? Augustus hat nie eine Volkszählung ausgerufen! Jesus ist ziemlich sicher in Nazareth geboren! Und außerdem ist Weihnachten nun wirklich durchgekaut, ausgesaugt, verkitscht!" Puristen der Jesusgeschichten raten von einem Kinobesuch ab. 

Wie gut kann ich das nachvollziehen! Wie verständlich, dass viele keine Lust haben, bewährte Weihnachtsklischees aufzuwärmen.

Aber mich berührt die Weihnachtsgeschichte als Prequel. Ich kenne die Erzählungen über Jesus von Nazareth, was er gepredigt und wie er Menschen versorgt hat. Dass er Frauen so viel früher als viele Kulturen gleich berechtigt hat, gehört zu den Geschichten. Und dass er ein Feindeslieber und ein Heiler war. Ich glaube den Bekenntnissen der ersten Jesusleute, dass in Jesus Gott selbst sich zeigt – verrückterweise sogar in seinem Tod. Auch in seiner Auferstehung.

Zu dem, was über Jesus von Anfang an erzählt wurde gehört auch das: Er hat die Kinder angenommen. In den Arm genommen, ernst genommen. Und ganz besonders das wird für mich in dem Prequel noch mal so plastisch: Er war ein Kind, wie wir. Ein Säugling, ein Krabbelkind, einer, der die ersten Schritte macht, einer, der seinen eigenen Willen entdeckt und der mit anderen spielt. Die scheinbar kleinen Nöte von Kindern kennt er.

Meine Krippe

Meine "Krippe" war ein "Stubenwagen". Ein aus Rohr geflochtener Korb, mit Stoff bezogen, auf einem Gestell mit Rädern dran. Er stand in Heessen, das es heute nicht mehr gibt – längst in das große Hamm in Nordrhein-Westfalen eingemeindet. Ich habe keine Erinnerungen an den Ort, wir sind von da weggezogen als ich noch keine zwei Jahre alt war. Wobei, eine Erinnerung meinte ich lange zu haben: Wie ich dort liege in meiner "Krippe". Und wie ich sehe, dass jemand zu mir hineinblickt und hineinlangt.

Das kann nicht sein, meinten meine Eltern, als ich ihnen mal von dieser Erinnerung erzählt hab. Wahrscheinlich hätte mein Hirn sich dieses Bild ausgedacht, als ich Fotos angeschaut habe. Vielleicht haben sie recht, denn es gibt einen Abzug in meinem Fotoalbum, so ein orangestichiges Farbbild, das schon auf den ersten Blick nach den Siebzigern aussieht. Meine dreijährige Cousine schaut zu mir in den Stubenwagen hinein und streckt ihre Hand aus, um mich zu streicheln.

Diese Babyjahre in unserem Leben, an die wir uns eigentlich nicht erinnern können: Sie sind so wichtig für unser Leben. In diesen verletzlichen und faszinierenden Jahren wird viel von unserer Gefühlswelt gebildet. Wir tasten uns hinein in diese Welt, ganz wörtlich. Und wir lernen nicht nur, wie die Gegenstände sich anfühlen oder heißen sondern auch "wie die Welt ist". Freundlich oder bedrohlich oder beides. Wir erleben wie sich Geborgenheit anfühlt oder eben nicht, wir erleben Angst, mehr oder weniger oder schrecklich viel. Hungerleer oder gut genährt starten wir ins Leben. Und so stellt sich ein Gefühl ein, "Ich bin gewollt und erwünscht" – oder der Eindruck, dass man besser nicht da sein sollte, dass man stört …

Ich steh an deiner Krippen hier

"Ich steh an deiner Krippen hier …", so heißt dieses Lied. 370 Jahre ist es her, dass Paul Gerhardt es veröffentlicht hat und damals war es eine ganz neue Form so zu singen: "Ich". Nicht "Wir". Und nicht gereimte Lehren über Weihnachten. Nicht allgemeine Wahrheiten. Sondern hier singt sich einer das Herz aus dem Leib und schenkt uns anderen seine Worte, damit wir es auch tun können.

Ich steh an deiner Krippen hier,
o Jesu, du mein Leben;
ich komme, bring und schenke dir,
was du mir hast gegeben.
Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn,
Herz, Seel und Mut, nimm alles hin
und lass dir’s wohl gefallen.

Da ich noch nicht geboren war,
da bist du mir geboren
und hast mich dir zu eigen gar,
eh ich dich kannt, erkoren.
Eh ich durch deine Hand gemacht,
da hast du schon bei dir bedacht,
wie du mein wolltest werden.

Wie eine große Meditation. Wie ein Hineinfühlen, so verstehe ich dieses Lied – und so verstehe ich das "Prequel", das die Weihnachtsgeschichte ist. Als würde man einen Schluck Wein langsam verkosten, genießen, mit allen Sinnen. Nicht analysieren… , sondern erleben, was geschieht.

Den Satz "Jesus ist Gottes Sohn", den kann ich kennen und aufschreiben und zitieren und für richtig halten. Aber die Weihnachtsgeschichte bietet uns an, das zu riechen, zu schmecken, den Duft und den Geschmack, Schluck für Schluck.

Du, Jesus, mit einer Windel an, eingemummelt in ein Tuch. Ein Säugling, ein Baby, wie wir es einmal waren – "da ich noch nicht geboren ward, da bist du mir geboren". Und die Erinnerung, dass so ein Baby anzusehen, Licht auch in dunkle Stunden bringt. Besonders dieses Jesusbaby.

Was sind diese schönen Strahlen, deren Wärme Paul Gerhardt offenbar spürt?

Für mich ist es das Versprechen "Ich mit dir. Ich an deiner Seite, in allem Glück und in allen Schmerzen." Und dieses Versprechen wird für mich greifbarer, wenn ich den Liedtext einmal umdrehe. "Ich steh an deiner Krippen hier" - stellen Sie sich vor, nicht wir singen das zu Jesus. Sondern Jesus singt das uns zu. Und weil es ja um uns als Kinder geht, muss ich sagen: Stell dir vor, er singt das dir zu – und mir. So wie du damals im Stubenwagen liegst, in einer gedrechselten Wiege, in einem Behelfsbett, in das deine Eltern dich auf der Flucht gelegt haben. In dem Brutkasten, wo du die ersten Wochen verbracht hast. In dem Gitterbett der ersten Jahre. Und zwar so, wie es war – einsam und dunkel oder warm und licht. Umsorgt oder so hilflos wie deine Eltern. Er singt es dir zu – auch wenn dein Kind in dir sich heute regt, wo du erwachsen bist. Wenn dieses innere Kind Angst bekommt, mitten in deiner Arbeit heute. Wenn es trauert, durch irgendeine Kleinigkeit ausgelöst, die dich erinnert. Wenn du dich auf dem Sofa oder im Krankenhausbett auf einmal so verletzlich fühlst. Gott singt zu dir: "Ich steh an deiner Krippen hier … du mein Leben".

So wird das Prequel der Geschichte Jesu zu einer Erzählung, worauf ich vertrauen will. Vertrauen, dass Jesus bedeutet: "Gott mit uns". Gott in unserem Leben, an unserer Seite. In einer der Prequel-Geschichten der Bibel bekommt Jesus sogar diesen Namen: "Immanuel", das heiß: "Gott mit uns".

Er spricht uns zu: Ich bin bei dir von Anfang an. Egal ob dieser Anfang der sehnsüchtige Wunsch deiner Eltern war oder scheinbar ein "Unfall", ob du gewollt warst oder deine Eltern dich erst lieben lernten: "Ich steh an deiner Krippe hier". Egal wie die Umstände, egal wie der Fingerabdruck, den das alles in deiner Seele hinterlassen hat: "Ich steh an deiner Krippen  hier … du mein Leben."

Krippe ist nicht nur das Bett

Die "Krippe", die Jesus mit uns geteilt hat, ist nicht nur ein Bettchen.

Die biblische Geschichte für diesen Tag beginnt so:

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war…

Zum Prequel gehört: Das römische Reich. Das sind die Leute, die Jesus eines Tages hinrichten werden.

Die Bibel erzählt mir, dass Jesus ein Mensch war, der irgendwie in diesem System des römischen Reiches leben musste – auch das tut mir an Weihnachten gut. Denn ich lebe in einem Weltsystem, wo Machtstrukturen zunehmen, die es auch im römischen Reich gab. Mir fallen Brocken aus dem Lateinunterricht ein. Sie gelten heute wie damals.

"Divide et impera" sagte man in Rom "teile und herrsche". Und die Gesellschaften spalten sich. Die USA sind mir da vor Augen. Deutschland natürlich. Von Frankreich höre ich es. In die EU versuchen Diktatoren wie Wladimir Putin Keile zu treiben. Und je mehr die Menschen auseinanderdividiert werden, umso leichter sind sie zu beeinflussen und von Populisten einzufangen.

Mir fällt das sprichwörtliche "Panem et circenses" ein. Brot und Spiele. Die römischen Herrscher wussten: Diese beiden braucht es, um eine Gesellschaft bei Laune zu halten, selbst wenn es schlecht läuft. Nein: Besonders dann, wenn es schlecht läuft, weil dann Reiche die Gewinne abschöpfen können und Mächtige viel Spielraum bekommen. Denn das Volk ist ja versorgt. Mindestens oberflächlich mit panem et circenses. Lieferando und Netflix. Energydrinks und Instagram. Ablenkung von der manchmal nicht zu ertragenden Wirklichkeit.

Auch die Selbstverständlichkeit von Sklaven im römischen Reich fällt mir ein. Und dass ich in den letzten Jahren begreife, wie viel Sklaverei es immer noch auf der Welt gibt. Menschenhandel für die Sexwirtschaft – auch in Deutschland. Politische Sklaverei von Uiguren in China. Sklavenartige Ausbeutung von Arbeitern für die Schokoladenproduktion.

"Es begab sich zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging …" 

Ich lebe in Augsburg, der Stadt, die nach dem Kaiser Augustus heißt. Und wenn ich in den letzten Wochen über den Weihnachtsmarkt gelaufen bin, konnte ich ihn mir jederzeit anschauen, den bronzenen Kaiser. Auf seinem prächtigen Brunnen.

Direkt unter dem Augustus ist die Krippe des Christkindlmarkts aufgebaut. Ehrlich gesagt: Die Augustusstatue ist eleganter, künstlerisch wertvoller und schöner als Maria und Josef, als die Hirten, als Jesus in der Krippe. Aber das unterstreicht eher, dass Jesus dort als einer von uns liegt. In der Krippe der Systeme, in denen wir liegen. Und er sagt zu uns: "Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen"

Was für eine Zerstörung aller Imperien, wenn wir Menschen uns so begreifen – göttlich angesehen! Wie viel weniger können böse Könige uns brechen, wenn wir das in uns einüben, dass wir so würdevoll sind! Dass Gott seinen liebenden Blick nicht von uns nehmen kann. Wie sehr kann es unsere Spaltung vermindern, wenn wir einander so sehen – "ach ja, das ist ja eine, die mit Freuden angesehen ist – ja, da seh ich es auch durchblitzen …"! Wie sehr könnten wir unsere kleine, kleine Kraft in die richtige Richtung nutzen, wenn das wir das in uns aufnehmen! Unsere tiefste Kindheitswahrheit ist: Jesus hat schon immer über uns gesagt: "Ich kann mich nicht sattsehen an dir".

Heute bin ich fast jeden Tag am Kinderbett meiner Tochter. Ich liege daneben, in der Dunkelheit umfangen fünf kleine Finger einen von meinen. Ich höre das Atmen, mal sanft und mal schnupfenverschnieft, manchmal quietscht der Schnuller. Und irgendwann lassen die Finger los.

Dieses Kind – alle Kinder - und all die Kinder, die wir Großen mal waren und immer noch in uns tragen, sollen es wissen: …   

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