Sie "erklimmen schwindelnde Höhen" und "liegen vor Madagaskar", sie schweben "über den Wolken" und begleiten "99 Luftballons" auf ihrem Weg zum Horizont. Die letzten Sonnenstrahlen fallen durch die hohen Fensterscheiben in den modernen Gemeindesaal. Etwa 30 Musikbegeisterte sind in die Nürnberger Kirche St. Jakob gekommen und freuen sich auf einen gemeinsamen Abend voller fröhlicher Klänge. Manche sind blind, andere sehbehindert.
Jeder darf singen oder brummen wie er kann
Eine blinde Dame kommt mit Stock, Sonnenbrille und Hut. "Man muss sich freuen und in der Gemeinschaft bleiben, solange man lebt", sagt die gut gelaunte Frau. "Alleine wird man einsam." Ein anderer, sehender Teilnehmer sagt, am liebsten höre er "Über den Wolken". Er begleitet seinen blinden Freund zum Rudelsingen. "Das ist ein Lied, mit dem man über der Erde schwebt und alles leichter nimmt, als es wirklich ist." Er komme gerne hierher, denn: "Singen macht fröhlich!"
"Ich freue mich über jede und jeden, der da ist", sagt Jutta Silberhorn, die das Rudelsingen mit viel Herzblut organisiert. "Es geht nicht darum, die Töne zu treffen. Jeder darf so singen oder summen oder brummen wie er kann - und da sagt auch niemand etwas dagegen." Die Sozialpädagogin arbeitet in Nürnberg für die Blinden- und Sehbehindertenseelsorge der evangelischen Kirche in Bayern.
Mit ihrem Konzept will Silberhorn Barrieren abbauen. Von herkömmlichen Rudelsingen würden blinde Menschen vor allem durch eine Hürde ausgegrenzt, erklärt Silberhorn. "Die Texte werden oft an die Wand projiziert oder liegen gedruckt aus. Blinde können damit nichts anfangen, für Sehbehinderte ist die Schrift zu klein."
"Mein Lieblingslied ist 'The Lion Sleeps Tonight', sagt Marita Hecker, die in der ersten Stuhlreihe Platz genommen hat. "Und zwar die Oberstimme!" Hecker begleitet an diesem Abend ihren Mann. Er ist blind und schwerhörig, sie sieht und hört ohne Schwierigkeiten. Marita Hecker freut sich, dass sie beide für ein paar Stunden ausbrechen können aus der Lethargie des Alltags. Sie freue sich, wenn ihr Mann zur Musik "mitkräht so gut es geht".
Werner Hecker singt am liebsten das 'Frankenlied'. Es gefällt ihm, die alten Volkslieder wieder zu hören: "Die Texte hat man ja, bei all den Geräuschen, die der Radio so von sich gibt, schon fast verlernt." Mit seinen Cochlea-Implantaten kann Werner Hecker seine Hörbeeinträchtigung ausgleichen. Einen Sehrest hat er noch. "Sozusagen ein Tunnelblick", erklärt der fröhliche Rentner. "Damit komme ich ganz brauchbar zurecht".
Liedtexte in Großschrift oder Braille
Ganz vorne im Saal haben zwei Musiker ihre Bühne eingerichtet. Werner Ringler und Armin Nembach begleiten das Rudelsingen auf Akkordeon und Gitarre. Zusammen mit Jutta Silberhorn moderieren sie den Abend. Ihr Repertoire reicht von volkstümlichen Wanderliedern über "Heute hier, morgen dort" von Hannes Wader bis zu Nenas Luftballons. Beide sind blind seit ihrer Geburt - und begnadete Musiker.
Notenschrift für Blinde beherrschen sowohl Nembach als auch Ringler. Diese während des Spielens zu lesen ist aber unmöglich, denn sie brauchen ihre Hände an Tasten und Knöpfen, Saiten und Griffbrett. Also prägen sich beide alle Takte auswendig ein. Ringler, der Herr am Akkordeon, hört sich die Melodien online oder im Radio an. Dann versucht er sie nach Gehör nachzuspielen. Armin Nembach, dessen Finger blitzschnell über die Seiten gleiten, löst die Schwierigkeit auf ähnliche Weise: im Zusammenspiel aus Talent und Geduld.
Werner Hecker hält einen roten Ordner in den Händen. Darin befinden sich alle Liedtexte in extragroßen Lettern. In den blauen Ordnern sind die Strophen in Braille-Schrift geschrieben. Im Vorfeld bedeutet das zwar reichlich Arbeit für das Vorbereitungsteam. "Der Aufwand lohnt sich aber", sagt Silberhorn. Für sie sei es ein Erfolg, wenn die Leute glücklich und beschwingt nach Hause gehen. "Da ist es egal, wie viele da waren - Hauptsache, alle hatten Spaß."
Die Idee zündet auch an diesem Abend. Dreißig Singende sind sichtlich begeistert von der stimmungsvollen Gemeinschaft. Vor der Sommerpause ist es an diesem Mittwoch erst einmal das letzte Treffen in St. Jakob. Die Sängerinnen und Sänger können es kaum erwarten - im Oktober sind sie alle wieder dabei. "Ich habe es eigentlich mit dem Singen nicht so", erzählt eine Frau mit langen weißen Haaren, "aber hier macht's mir schon Spaß!" Die Gesellschaft der Gruppe sei für sie besonders wichtig. "Da fällt es nämlich nicht so auf, wenn ich mal falsch singe!"