Ganz zu Beginn, am frühen Mittwochnachmittag, noch vor den Eröffnungsgottesdiensten, stand unter dem Titel "A real Mentsh" eine Veranstaltung zum Thema "Wozu der Mensch fähig ist" – und zwar in der besonderen Nürnberger Perspektive. Prominent besetzt mit Kirchentagspräsident Thomas de Maizière, Regionalbischöfin Elisabeth Hann von Weyhern, Oberbürgermeister Marcus König und dem Nürnberger Rabbiner Steven Langnas ging man am Mahnmahl zum Gedenken an die Opfer der NSU-Morde und bei einem Marsch durch die sich anschließende Straße der Menschenrechte der in vielen Dimensionen mörderischen Geschichte der Stadt nach.
Neonazis des "Nationalsozialistischen Untergrunds" brachten allein in der ehemaligen "Stadt der Reichsparteitage" drei Menschen mit türkischem oder kurdischem Migrationshintergrund um. Nicht nur im Untergrund ist der Schoß von Hass und Ungeist fruchtbar noch – nur kommt der Antisemitismus heute oft in Gestalt von "Israelkritik" daher, auch in den evangelischen Kirchen.
Zeugnisse der Judenfeindschaft
Die Stadt Nürnberg, deren Name für immer mit den NS-"Rassegesetzen" von 1935 verbunden ist, hat sich nach ihrer totalen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg als "Stadt der Menschenrechte" neu erfunden. In Nürnberg gibt es hervorragende Gedenkorte wie das "Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände" oder das "Memorium Nürnberger Prozesse" mit dem Saal 600 im Nürnberger Justizpalast, in dem nach 1945 die Kriegsverbrecherprozesse stattfanden. Man kann der Stadt nicht vorwerfen, dass es hier am Willen mangle, sich mit der eigenen Geschichte wach und aufrichtig zu beschäftigen.
Umso mehr irritiert es, dass von Nürnbergs jüdischer Geschichte vor 1933 in der Innenstadt auch heute praktisch nichts zu sehen ist. Dabei verdankt die Stadt ihre charakteristische Gestalt mit St. Lorenz auf der Südseite der Pegnitz, der noch älteren Sebalduskirche auf der Nordseite und dem großen Hauptmarkt mit Rathaus und Frauenkirche in der Mitte einem Verbrechen: dem großen Judenpogrom von 1349.
Am Anfang stand ein Verbrechen mit höchstem Segen
Unter Kaiser Karl IV. (1316-1378) war Nürnberg in den Mittelpunkt des Reichs gerückt. Die Stadt blühte, auch ihre exzellente Lage zwischen Luxemburg, Frankfurt und Karls Geburtsstadt Prag sowie die prächtige Kaiserburg sprachen für eine Hauptrolle im Reich für die immer reicher werdende Stadt. Nürnberg bestand ursprünglich aus zwei getrennt ummauerten Stadtteilen um die beiden Pfarrkirchen. Den Juden hatte man das schlechte, sumpfige Land außerhalb, unten an den Pegnitzauen zugewiesen. Nach der Verbindung der beiden Stadthälften über den Fluss hinweg rückte das alte Judenviertel in eine lukrative zentrale Lage – und löste Begehrlichkeiten aus.
Es waren Pestzeiten; auch andernorts im Reich brachten damals Christen ihre jüdischen Nachbarn um. In Nürnberg gab Kaiser Karl der Vertreibung und Ermordung einer der größten jüdischen Gemeinden Europas seinen persönlichen Segen: Mit einer Urkunde vom 16. November 1349 gestattete er dem Rat der Stadt, die Judenhäuser abzureißen und den frei werdenden Platz als zentralen Marktplatz zu nutzen. Ausdrücklich stellte er die Stadt straffrei, wenn dabei Juden zu Schaden kommen sollten. Dort, wo die Synagoge stand, sollte künftig eine Kirche zu Ehren der Jungfrau Maria sein: die heute katholische Nürnberger Frauenkirche, von deren Balkon alljährlich das Christkind den Nürnberger Christkindlesmarkt eröffnet.
Auf dieser "Leerstelle" der jüdischen Geschichte Nürnbergs, dem Hauptmarkt (der in der NS-Zeit "Adolf-Hitler-Platz" hieß), fanden die großen Gottesdienste des Kirchentags statt. Dass bei der Eröffnung die jüdische Ortsgeschichte – anders als beim Eröffnungsgottesdienst in einfacher Sprache auf dem Kornmarkt – keine Erwähnung fand, will nicht recht zum Programm dieses Kirchentags passen, das mit einigen Highlights in Sachen jüdisch-christlicher Neuanfänge aufwartete.
3-D-Rekonstruktion der alten Hauptsynagoge
Auch der Obstmarkt hinter der Frauenkirche und der Hans-Sachs-Platz gehören zu den "Leerstellen" der jüdisch-christlichen Geschichte. Abseits an der Spitalbrücke über die Pegnitz erinnert etwas verschämt ein Stein an die Nürnberger Hauptsynagoge, die hier stand. 1874 in maurischem Stil errichtet, ließ sie "Frankenführer" Julius Streicher am 10. August 1938 abreißen – schon Monate vor den Novemberpogromen –, weil sie angeblich "das schöne deutsche Stadtbild" Nürnbergs störte. Auf dem Kirchentag konnte man per 3-D-Brille die in virtueller Realität rekonstruierte Synagoge besuchen. Und auf dem Hans-Sachs-Platz feierten am Samstagabend Rabbiner Steven Langnas und die jüdische Gemeinde Nürnbergs zum ersten Mal seit 85 Jahren am historischen Ort einen jüdischen Gottesdienst.
Doch Pläne, wie in München die Synagoge in das Herz der Stadt zurückzuholen, gibt es in Nürnberg nicht, wie Sebalduspfarrer Martin Brons beklagt. Bei der anstehenden städtebaulichen Neugestaltung des Obstmarkts werde man ziemlich sicher auf archäologische jüdische Spuren stoßen, doch es gebe keine Konzepte, wie man damit umgehen will.
Brons hat für den Kirchentag einen Weg mit Stationen jüdischer Geschichte vom Hans-Sachs-Platz zur Sebalduskirche konzipiert. Seine Kirche wurde nämlich in den Jahrzehnten nach dem ersten Judenpogrom kräftig erweitert – und dabei auch mit Zeugnissen der zeitgenössischen Judenfeindschaft "verschönert". Dazu gehört eine der unsäglichen "Judensau"-Darstellungen. Man muss sie an der Fassade suchen und sieht sie nur, wenn man weiß, wo sie ist. Unter dem Marienportal von St. Sebald wurden im Mittelalter Nürnberger Brautpaare getraut. Auf dem Portal ist ein Mann mit Judenhut zu sehen, dessen Hand beim Versuch, den Sarg Mariens zu berühren, verkrüppelt wird. Erst nachdem er sich zu Christus bekannte, so die Geschichte aus der Legenda Aurea, sei der Jude wieder geheilt worden. Doch letztlich sind bereits Darstellungen wie das Fresko "Paulus vor den Juden" im Inneren der Kirche verzerrend und giftig, weil Paulus bekanntlich selbst Jude war, so aber in einen Gegensatz zu "den Juden" gestellt wird.
Ärger um die "Nakba"-Ausstellung
Der Frage, wie man mit antijüdischen Schmähplastiken an Kirchen umgehen soll und wie judenfeindliche christliche Bilder unschädlich gemacht werden können, gingen auf dem Kirchentag der Leipziger Theologe Alexander Deeg und die israelisch-deutsche Literaturwissenschaftlerin und Antisemitismusforscherin Yael Kupferberg nach. Für Kupferberg liegt ein zentrales Problem darin, dass das Christentum eine ausgeprägte und bis heute nachwirkende "Bildlichkeit" entwickelt hat. Jesus verkörpere in Schrift, Körper und Bild den unsichtbaren Gott. Wo das Judentum aufs Hören setze (Sch’ma Yisrael ... – Höre Israel!), habe das Christentum in seiner Geschichte stark aufs Schauen gesetzt. Doch über Bilder gemachten Erfahrungen könne man nicht trauen. Bilder verkörpern gern ein "Mehr", obwohl sie faktisch ein "Weniger" sind. Das gelte auch für das Bild des Kruzifixes: Der Jude (Jesus) werde zugleich als ohnmächtiges Opfer und als unsichtbare Allmacht abgebildet – eine Parallele zum klassischen Muster des Antisemitismus.
Es ist ein Muster, das sich heute häufig auch getarnt als "Israelkritik" zeigt. Im Vorfeld hatte das Kirchentagspräsidium einstimmig beschlossen, die sogenannte Nakba-Ausstellung nicht zuzulassen, die seit 1999 auf praktisch allen Kirchentagen zu sehen war. Kritiker attestieren der pro-palästinensischen Ausstellung eine eklatante Verharmlosung des arabischen Angriffskriegs 1948, der am Ende zu Flucht und Vertreibung von 700 000 Arabern führte. Auch Fakten wie das arabische Massaker an den Juden von Hebron 1929 werden in der Schau verschwiegen. Auf das Verbot der Ausstellung reagierte unter anderem auch die ehemalige Kirchentagspräsidentin Elisabeth Raiser mit scharfem Protest.
Missglücktes Israel-Hauptpodium
Viele pro-palästinensische Kritiker der Kirchentagsentscheidung waren bei einem nachträglich dem Programm hinzugefügten "Hauptpodium" zum Thema in der Nürnberger Meistersingerhalle zugegen. Den Impuls lieferte die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die 2020 zu den Initiatoren eines viel diskutierten offenen Briefs gehörte. Tenor: Mit dem Vorwurf des Antisemitismus werde die Debatte um die israelische Besatzungspolitik erstickt. Nun versuchte sie zu zeigen, dass "Loyalität mit dem Staat Israel und Solidarität mit den Palästinensern sich nicht ausschließen müssen". Israelis und Palästinenser müssten endlich die Leiden und Traumata der jeweils anderen Seite anerkennen und sich über ihre sehr gegensätzlichen Erinnerungen an das Jahr 1948 austauschen, so Assmann. Weil sie dabei ein Zitat verwendete (das als Zitat in ihrer Rede nicht "hörbar" war), das allein von den "Verbrechen Israels" sprach, reagierte die Präsidentin der Münchner Israelitischen Kultusgemeinde sichtlich verstimmt. Assmann klärte das Missverständnis auf, aber der Misston war gesetzt.
Dass ein Podium mit dem Titel "Fokus Israel und Palästina. Wo sind die Brücken in die Zukunft?" womöglich nicht wirklich gut funktioniert, wenn auf diesem Podium weder Palästinenser noch Israelis sitzen, wurde in Nürnberg auf schmerzhafte Weise sichtbar. Am überzeugendsten war der IT-Unternehmer und Württemberger Christ Frank Müller, der davon berichtete, wie sein Unternehmen AXSOS in Ramallah palästinensische Jugendliche zu erfolgreichen Software-Entwicklern ausbildet. Ein Büro in Israel hat seine Firma ebenfalls. Müller findet, die palästinensische Seite müsse raus aus der "Opferrolle", in der man sich eingerichtet habe. Statt immer auf das zu blicken, was aufgrund der Besatzungssituation nicht gehe, ermutige er lieber dazu, "die 80 Prozent zu nutzen, die ihr trotz Besatzung habt".
Jüdisch-christliche Bibelarbeit
Auch in der christlichen Theologie und Praxis wurzeln die Strukturen der Judenfeindschaft tief. Viele Juden weigern sich angesichts dieser Geschichte, Kirchen auch nur zu betreten. Höchst inspirierend ist da, wenn die jüdische Neutestamentlerin Amy-Jill Levine aus Hartford, Connecticut, und der emeritierte Neutestamentler Wolfgang Kraus aus Regensburg auf dem Kirchentag in einer gemeinsamen Bibelarbeit und bei weiteren Veranstaltungen eine andere Perspektive aufzeigen: die einer Art Heimholung des Neuen Testaments ins Judentum.
Beide zeigen sich unterhaltsam, witzig und klug. Levine ist Herausgeberin des "Jewish Annotated New Testament". 2021 ist das Buch als "Das Neue Testament – jüdisch erklärt" (Deutsche Bibelgesellschaft, 68 Euro) auf Deutsch erschienen. Die Idee zu der Übersetzung hatte Wolfgang Kraus.
Levine ist in einem kleinen Ort in Massachusetts in einem portugiesischen Viertel aufgewachsen. Beim Kommunionsunterricht ihrer katholischen Freundinnen wollte sie unbedingt mitmachen – ihre toleranten Eltern ließen sie. Schon damals wollte sie aufklären, was für sie nichts anderes als ein Missverständnis sein konnte: Wenn wir, Juden und Christen, die gleichen heiligen Schriften lesen, die gleichen Psalmen singen, an den gleichen Gott glauben, die gleichen Gebete sprechen (wie das Vaterunser), wenn der Jude Jesus der Sohn einer jüdischen Mutter war – wie könne es dann sein, dass der Priester ihrer Freundin behauptete, "die Juden" hätten "unseren Herrn getötet" (und dabei dachte die kleine Amy-Jill natürlich an sich selbst und ihre Familie)?
"Man kann das Neue Testament lesen und beschließen, die Juden zu hassen", lautet Levines Befund heute. Aber wie kann man lernen, diese Texte zu lesen, ohne auf diese fatale Spur zu geraten?
Das Neue Testament als jüdische Quelle
Das Neue Testament ist jüdische Geschichte. "Das habe ich in der Synagoge nicht gelernt", sagt Amy-Jill Levine. Doch wenn man etwas über das jüdische Leben im ersten Jahrhundert erfahren wolle, seien die Evangelienschriften eine sehr gute Quelle. Das NT ist geradezu getränkt mit jüdischen Traditionen. Und ohne sie zu kennen, kann man diese Texte nicht richtig verstehen. Levine berichtet von verstörenden Verirrungen und christenfeindlichen Verzerrungen auch auf jüdischer Seite. Jesu hebräischer Name "Yeshuah" bedeutet "Rettung". Doch der Talmud lässt den Buchstaben Ayin am Ende weg: Der Name "Yeshu" steht so für einen Fluch, die Anfangsbuchstaben von "Yimach Shemo w’Zichro" – "möge sein Name und seine Erinnerung weggewischt werden".
Aus jüdisch-feministischer Perspektive sei das NT ebenfalls eine wichtige Quelle, betont Levine: Frauen spielten damals eine wichtige und selbstbewusste Rolle. Die Jüdin Martha hatte ihr eigenes Haus und verfügte über ihr eigenes Geld. Frauen konnten sich scheiden lassen, waren in der Synagoge – "und zwar nicht hinter einem Schirm versteckt".
"Der gekeuzigte Jude ist Gott", das sei eine schwierige Botschaft, findet die Jüdin Amy-Jill Levine. Ein Zeichen der messianischen Zeit sei aus jüdischer Perspektive, dass sich die Völker, die "Goyim", dem einen Gott zuwenden – nicht als Juden, sondern als das, was sie schon bisher waren. Auch der Jude Paulus habe seinen Auftrag so verstanden – nicht als eigenen Religionswechsel. Das rabbinische Judentum entstand auch in der Auseinandersetzung mit den Christen und der Ablehnung ihrer Lehre. Missverständnisse prägten daher bis heute die Beziehung von Juden und Christen, sagen Levine und Kraus. Juden wie Nichtjuden müssten begreifen, wie viel Judentum im NT steckt.
Sehenswertes Ein-Raum-Museum
Ein Stück jüdischer Geschichte steckt seit mehr als 500 Jahren auch im Sebalder Pfarrhof, wie Pfarrer Martin Brons auf dem Stationenweg durch Nürnbergs Altstadt zeigt. Der Pfarrhof ist eines der ältesten und schönsten Gebäude der Stadt. Das Original des malerischen gotischen "Steinchörleins" an seiner Fassade ist eines der Prunkstücke im Germanischen Nationalmuseum. Als das Gebäude umfassend saniert wurde, stießen 2018 Arbeiter auf einen offensichtlich ganz bewusst verbauten jüdischen Grabstein – und auf einen hebräischen Segensspruch, der auf einer 500 Jahre alten Holztüre stand: "An dieses Tor soll kein Kummer kommen!"
Was steckt hinter dem Rätsel? Martin Brons’ Theorie ist, dass es sich hier um eine Art humanistisch-historische Angeberei des Nürnberger Patriziers und Sebalder Pfarrherrn Melchior Pfintzing handelt, der 1512 für die große Renaissance-Erweiterung des Pfarrhofs sorgte. Damals lag der dritte große antijüdische Pogrom von 1499 nur wenige Jahre zurück. Der jüdische Grabstein, der damals und bis in die 1930er-Jahre gut sichtbar eingebaut wurde, erinnert an Frau Gutlin, Tochter von Väterchen Simson, die am 29. des jüdischen Monats Tewet im Jahr 5095 (= 1334 unserer Zeitrechnung) beerdigt wurde. Damit ist der Stein eine Erinnerung an zwei Menschen, die in der Zeit kurz vor dem ersten Pogrom lebten, als dessen Folge der Hauptmarkt entstand und der am Anfang von Jahrhunderten der Verfolgung und unzähligen weiteren Verbrechen stand. Von 1499 bis die Stadt 1806 dem Königreich Bayern einverleibt wurde, lebten in Nürnberg keine Juden mehr (und seit der Reformationszeit auch keine Katholiken).
Die Funde verstanden Brons und seine Gemeinde als Verantwortung. Unterstützt von Mitteln im Rahmen des Festjahrs "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" (2021) entstand unter dem Titel "Stein + Tür" ein sehenswertes kleines Ein-Raum-Museum zur jüdischen Geschichte Nürnbergs. Die Präsentation wurde in enger Kooperation mit der jüdischen Kultusgemeinde erarbeitet und ist das einzige Museum zum Thema in der Nürnberger Altstadt.
Martin Brons würde sich wünschen, dass ein Weg mit Stationen der jüdischen Geschichte zu einer dauerhaften Einrichtung würde. Die Stadt Nürnberg zeige sich daran aber leider noch nicht recht interessiert.
Doch vielleicht zeigt der Kirchentag ja auch in dieser Hinsicht Nachwirkungen.
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