"Die Leute von Lot" werden Homosexuelle in der Arabischen Welt immer wieder genannt. Die Geschichte von Lot ist bekannt, sie taucht im Tanach, dem alten und neuen Testament als auch im Koran auf. Darin geht es um das Eintreten Lots gegen das schändliche Verhalten der Sodomiter, im Koran das Volk Lots genannt, das raubte, hurte und am Ende vernichtet wurde.
Homosexuellen Männern in der arabischen Welt eine Stimme geben
Vernichten – das lassen sich homosexuelle Männer in der Arabischen Welt bis heute nicht. Auch obwohl sie zwischen Ägypten und Saudi Arabien, Irak und Jemen noch immer gedemütigt, verfolgt und für ihre sexuelle Orientierung bestraft werden. Auch obwohl ihre Jugend oft von Vergewaltigung, Gewalt und Scham geprägt ist. Der in Syrien geborene Khaled Alesmael, selber homosexuell und nach London geflohen, hat zahlreiche Interviews mit arabischen Männern geführt und zehn ihrer Schicksale in "Ein Tor zum Meer" niedergeschrieben. Teilweise als Briefe, teilweise als Erzählungen.
Alesmael gibt Einblicke in zaghafte Berührungen, in vorsichtige Neuanfänge und machtvolle Befreiungsschläge und gleichzeitig in eine Welt von Heuchelei und Unterdrückung.
In den Texten, die auf Begegnungen und Briefen Geflüchteter aus verschiedenen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens basieren, erfahren wir von Scheinehen, sexuellem Missbrauch, Polizeigewalt und Tötungen, aber auch von starken Frauen, die zu ihren sich outenden Männern stehen, von Flüchtlingen, die einander helfen und Männern, die zusammenhalten, die leben und in Freiheit lieben wollen.
Homosexualität kann schlimme Konsequenzen haben
So geht es in der ersten Erzählung "Abduls Bekenntnisse" um einen jungen Mann aus der syrischen Hauptstadt Damaskus. Als er erstmals seinen zukünftigen Schwager im Bademantel sieht, fühlt er sich noch zu ihm hingezogen. Dabei bemerkt die Familie, dass er "ein zarter junger Bursche" ist und vereinbart, den Jungen in die Obhut des Schwagers zu stellen, "um seine Persönlichkeit zu stärken." Abdul platzt zunächst vor Vorfreude, schminkt sich sogar die Lippen – um schließlich von seinem Schwager verprügelt und regelmäßig missbraucht zu werden.
Unter dem Vorwand, die Schwester käme ihren "ehelichen Pflichten" nicht genügend nach und unter Androhung, ihn als jugendlichen Verführer zu denunzieren und ihn umzubringen, lässt Abdul die Gewalt über sich ergehen. "Schließlich hatte ich mit dem Lippenstift auf den Lippen eine Frau imitiert, und was blühe dem Stamme Lot."
So erfahren wir erstmals von der perfiden Realität um das Thema Homosexualität in der Arabischen Welt und ihren schlimmen Konsequenzen. Am Ende rettet Abdul ein Unfall vor weiterer Schmach – und er flieht nach Europa.
So schockierend wie die erste Erzählung, sind jedoch nicht alle in diesem Erzählband. So geht es beispielsweise in "Safadi" um einen syrischen Palästinenser, der als Jugendlicher seine Leidenschaft für das Tanzen entdeckt und am Ende in der Berliner Sonnenallee dieser Leidenschaft frei nachgehen kann. Wir erfahren von einem jungen Mann, der trotz allen Wissens um das Verbot von Homosexualität seiner Liebe nach Saudi-Arabien folgt, dort sitzengelassen wird, sich jedoch aufbäumt, sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt und neue Freunde findet.
Ungesehene Schicksale macht der Autor sichtbar
Alle Erzählungen sind deshalb so spannend, weil sie ganz persönliche Einblicke bieten, jenseits der Nachrichten. Und das vor dem Hintergrund der großen Umwälzungen der vergangenen dreißig Jahre in dieser Region, vom Arabischen Frühling über die Kriege in Irak und in Afghanistan bis hin zur Herrschaft des Islamischen Staat, seinem Aufstieg und Fall.
"Ein Tor zum Meer" versammelt Erinnerungen an Damaskus vor dem Krieg, an eine queere Jugend im christlichen Viertel von Kairo und an die Ankunft islamistischer Terroristen in Raqqa aus der Sicht eines Mannes, der sich gern schminkt und Kleider trägt. Dabei wechseln freudige Momente mit denen von Angst und Bedrohung ab.
Das Meer spielt dabei eine besondere Rolle, es zieht sich als Symbol für Freiheit und Rettung durch das gesamte Buch. Der Titel "Ein Tor zum Meer" bezieht sich auf das Hammam Bab al-Bahr in der Innenstadt Kairos, das die Widersprüche und Ambivalenzen widerspiegelt. Den Treffpunkt beschreibt Alesmael als stinkenden Ort, der jedoch die einzige Zuflucht darstellt, für einige Stunden abzutauchen.
"Um sie selbst sein zu können, müssen Schwule sich am schmutzigsten Ort Kairos baden,"
schreibt der Autor. Am Ende wird auch dieses Refugium von der ägyptischen Polizei geräumt.
Khaled Alesmael selber wurde als Sohn eines syrischen Vaters und einer türkischen Mutter in Syrien geboren. Er studierte an der Universität Damaskus englische Literatur und arbeitete als Journalist in Europa und dem Nahen Osten. Im Jahr 2014 floh er von Damaskus nach Stockholm, wo er seine eigene Geschichte in dem Roman "Selamik" niederschrieb. Heute lebt er in London.
Alesmael beschreibt "Das Tor zum Meer" als fiktionales Sachbuch, denn er verwebt Fiktion und Fakten. Einerseits macht er dies sehr kunstvoll und schafft dadurch sehr intime, augenöffnende Ich-Erzählungen. Und er schreibt erstmals von Schicksalen, die anderenfalls unsichtbar geblieben wären. Aber diese Verwischung der Grenzen hinterlässt auch eine kleine Enttäuschung. Gerade weil es so wenig authentische Berichte zu diesem Thema gibt.
"Ein Tor zum Meer" von Khaled Alesmael, 2022, Albino Verlag, 208 Seiten, 22 Euro.
Kommentare
Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.
Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.
Anmelden