Herr Bayreuther, nach der Lektüre Ihres Buches "Der Sound Gottes" graut mir als Kirchenmusiker plötzlich vor dem Gedanken, wieder das Orgel-Begleitbuch, einen Luther-Choral oder ein Bach-Vorspiel aufzulegen, weil ich jetzt das Gefühl habe, alles das ist formelhaft, einfältig und wird Gott keinesfalls gerecht. Können Sie das nachvollziehen und mir vielleicht sogar Mut zusprechen?

Rainer Bayreuther: Kann ich nachvollziehen, falls Sie die Noten einfach nur möglichst gut und korrekt eine nach der anderen abspielen wollten. Damit werden Stücke zur Aufführung gebracht. Das kann einer, aber nicht der erste und letzte Sinn von Kirchenmusik sein.

Sie zerstören in den ersten rund 50 Seiten so ziemlich alles, was in den vergangenen 500 Jahren gängige Kirchenmusiktradition war, in der Hoffnung, diese wieder von Grund auf aufzubauen. Wie erklären Sie Ihre Gedanken Ihren Studierenden an der Musikhochschule?

Bayreuther: Bei Ihrer Frage kommt mir Dostojewskis Großinquisitor in den Sinn. Dieser Mann steht für eine Kirche, die sich in ihren Traditionen und ihrer Geschichte eingemauert hat. Jesus stört da nur, der Großinquisitor schickt ihn zurück in den Himmel. Der Großinquisitor will weitermachen wie bisher, nicht nur weil er seine Macht erhalten will, sondern auch, weil er sich auf der Seite der Wahrheit wähnt. Die Dogmen, Riten und Frömmigkeitsbestände sind wahr, weil sie eine Tradition haben. Das Ereignis des plötzlich wieder auf Erden wandelnden Jesus, das die Uhren auf null stellt, fügt sich dem nicht. Man mag sagen, das gegenreformatorische Spanien der Großinquisitorgeschichte, das ist dunkles katholisches Spätmittelalter. Aber im evangelischen Bereich findet sich dieser Konnex von Geschichte und Wahrheit auch.

Inwiefern?

Bayreuther. Die Leute, die im 19. Jahrhundert das geisteswissenschaftliche Geschichtsdenken auf den Weg brachten, wie Herder, Schleiermacher, Hegel oder Ranke, sind alle eng mit dem Protestantismus verbunden. Dieses Geschichtsbild besagt, das Wahre, Gute und Schöne eines Artefakts ist der Reichtum an Sinn, den es im Kontext aller anderen Dinge entfaltet. Wahrheit und Schönheit sind dann immer Kontextbegriffe, sie erweisen sich an ihrer Verbundenheit mit etwas anderem daneben, davor, danach. Die Gesamtheit dieser Verweisungstextur kann man als Tradition bezeichnen. Tradition ist also so etwas wie ein Wahrheitserweis eines Artefakts.

Und was folgte daraus?

Bayreuther: Nicht zufällig war das frühe 19. Jahrhundert genau die Zeit, in der bestimmte Werke der evangelischen Kirchenmusik kanonisiert wurden. Sicherlich war damit auch verbunden, dass man in den Klassikern ein kritisches Potenzial gegen eine verflachte Gegenwart sah. Die Lutherlieder in ihrer Ursprungsgestalt gegen das, was davon in den aktuellen Gesangbüchern zu finden war, Carl Friedrich Zelters Wiederaufführungen der Matthäuspassion und der h-Moll-Messe gegen eine ästhetisch und theologisch belanglose Kantatenproduktion der Zeit, und so weiter.

Stellten diese Korrekturen die Tradition infrage?

Bayreuther: Nein, denn sie hielten an ihrem Prinzip fest, dass sich die Wahrheit einer Sache in ihrer kulturellen Kontextualisierung zeigt. Kultureller Kontext, das klingt sehr akademisch, aber letztlich ist es etwas sehr Einfaches, es ist der denkende, fühlende, planende, redende Mensch, es sind wir selber, die kommunikativ aushandeln, was für uns bedeutsam ist. Im Buch zeige ich auf den besagten ersten 50 Seiten auf, wie die evangelische Kirchenmusik an allen Ecken und Enden dieses Prinzip entfaltet hat. Die historische Spanne ist tatsächlich groß. Viele Weichenstellungen geschahen bei den Reformatoren, manche schon bei Paulus, viele im 19. Jahrhundert, viele offenkundige Probleme, die die Kirchenmusik heute hat, wie das emotionalisierte, pädagogisierte Reden über die Kirchenmusik oder die anstrengende Jagd nach dem musikalisch Zeitgemäßen.

Ich stelle das Traditionsprinzip infrage. Damit ist aber nicht gesagt, dass ich die Kirchenmusik zerstören will.

Und das wollen Sie zerstören?

Bayreuther: Was "zerstöre" ich damit? Ich stelle das Traditionsprinzip infrage. Damit ist aber nicht gesagt, dass ich die Kirchenmusik zerstören will. Ich möchte sie erst einmal daraus entflechten, sie aufs freie, leere Feld stellen, wo es vielleicht ungemütlicher ist. Was würde Jesus zu unserer Kirchenmusik sagen, oder vielmehr, was würden wir ihm sagen, wenn er plötzlich wieder unter uns wäre und mit einem Satz, einem Wort die Menschen existenziell verwandeln könnte? Würden wir in das Verhalten des Großinquisitors verfallen? Wenn wir das nicht wollen, wie lässt sich Musik im christlichen Glauben so denken und machen, dass sie diesem Jesus halbwegs entspricht? Wie erkläre ich das Studierenden? Genau so, aber detaillierter.

Sie schreiben, das göttliche Geschenk sei ein Ereignis, keine Geschichte. Ist es daher letztlich gar nicht notwendig oder zielführend, Gott musikalisch erfahrbar zu machen?

Bayreuther: Keine Geschichte in dem Sinn von erzählbarer Geschichte. Heute herrscht die merkwürdige Auffassung, eine Sache sei nur in Form einer Geschichte vermittelbar. Für die christliche Botschaft oder auch für Musik ist das fatal, sie sind eben partout etwas grundlegend anderes als Geschichten. Erzählbare Geschichten basieren immer darauf, dass Menschen etwas denken, wünschen, planen und tun und dann mit dem, was daraus geworden ist, mehr oder weniger glücklich sind. Ist das ein gutes Beschreibungsmodell für Musik? Ist es ein gutes Beschreibungsmodell für göttliches Handeln?

Gottes Handeln passt sich nicht dem menschlichen Maß von Handeln an.

Was meinen Sie?

Bayreuther: Ich glaube nicht. Gottes Handeln passt sich nicht dem menschlichen Maß von Handeln an, es durchkreuzt das menschliche Handeln. Das sowohl der Musik wie auch Gott viel angemessenere Beschreibungsmodell scheint mir das des Ereignisses. Ereignisse sind etwas anderes als Handlungen, weil das, was geschieht, nicht aus Wünschen und Absichten von Akteuren hergeleitet werden kann. In genau diesem Sinn kann man das göttliche Handeln nicht erzählen oder es immer nur im negativen Modus erzählen. Natürlich kann jemand schildern, wie er eine Gotteserfahrung erlebte. Aber was soll er da groß anderes bekunden als Bestürzung, Überraschung, Herausgerissenwerden? Und selbst das bleibt immer bei einer Schilderung der Befindlichkeit stehen. Es bleibt bei den Menschen hängen, es bildet nur die Reaktion ab, es dringt nicht zum Kern des Ereignisses vor.

Und das beziehen Sie auch auf die Kirchenmusik?

Bayreuther: Die evangelische Kirchenmusik hat sich schon sehr weitgehend auf dieses Segment des religiösen Felds zurückgezogen, insbesondere mit ihrem Verständnis des Gemeindelieds. Es gibt durchaus andere Formen des christlichen Musizierens, die das Selbstverständnis haben, in ein göttliches Ereignis hineinzuführen, Beispiel "Worship". Oder der Ort des göttlichen Ereignisses zu sein, wie die gesungene katholische Liturgie. Aber damit haben viele Protestanten Schwierigkeiten, wobei die Stil- und Geschmacksfragen nur die Oberfläche sind.

Was befindet sich darunter?

Bayreuther: Darunter liegt das Entscheidende, dass man sich das christliche Musikmachen traditionell in der Haltung des menschlichen Antwortgebens auf ein bereits gelaufenes göttliches Ereignis vorstellen kann. Die Diagnose, dass die evangelische Kirchenmusik sich traditionell auf der Seite des Gott Antwort gebenden Menschen bewegte, ist zentral in meinen Überlegungen. Das setzte nämlich voraus, dass Gott und der Status der Gotteskindschaft noch im Alltagsbewusstsein der Menschen vorkamen. Der Gottesdienst und seine Kirchenmusik waren dann Antwort, Bestätigung, Feier dieses Status. Aber für kaum jemanden spielt das heute noch eine Rolle, immer weniger selbst für Kirchenmitglieder. Das koinzidiert mit meinen Überlegungen zum kulturellen Wahrheitsstatus, den christliche Dinge lange Zeit hatten, aber seit Jahrzehnten massiv einbüßen.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Bayreuther: Der Anblick einer alten Kirche etwa frischt dieses Gottesbewusstsein auch nicht mehr auf, selbst wenn man an Heiligabend selber drin war. Eine Kirchenmusik, die als Antwort und Feier dieser Gotteskindschaft gedacht und konzipiert wurde, läuft dann ins Leere. Aber die empirische Religionsforschung sagt zugleich, dass ein beträchtlicher, wesentlich höherer Anteil der Menschen in Deutschland noch Transzendenzerfahrungen bekundet. Sie werden an allen möglichen Orten gemacht, manchmal kirchlichen, meistens nichtkirchlichen. Das ist für mich der Anknüpfungspunkt. Diese Orte haben strukturelle Gemeinsamkeiten. Sie sind a-kulturell, sie sind a-historisch, sie sind nicht geschichtenförmig. Etwas Göttliches zeigt sich, wenn es sich zeigt, in ihnen unmittelbar, unvermittelt, ereignishaft. Der rituelle Ursprung von Musik in den vorgeschichtlichen Zeiten weist genau diese Merkmale auf.

Wie kann das heutzutage wiederhergestellt werden?

Bayreuther: Die elektronischen Medien bringen diese ursprüngliche Verbundenheit von Musik und Ereignis in sehr unmittelbarer Weise wieder zur Geltung. Filmmusik, der Soundtrack von digitalen Games, die Klangkulisse von Sportveranstaltungen, solche Klangerfahrungen, in denen genau diese ursprüngliche Verbundenheit herrscht, haben wir heute alle tief verinnerlicht. Ich kann es Kindern nicht verdenken, dass sie das Singen in der Kinderkirche, wenn es nur in der Antworthaltung verharrt, langweilig finden.

Ich hab den Sound Gottes schon gehört.

Haben Sie selbst schon den "Sound Gottes" beziehungsweise etwas, das Sie dafür halten, gehört und wie kann man ihn zum Klingen bringen?

Bayreuther: Ja, ich habe ihn schon gehört. In unterschiedlichen Situationen, kirchenmusikalischen und ganz anderen. Solche Aussagen haben aber immer den Status eines Glaubenszeugnisses, sie sind nicht nachprüfbar und nicht reproduzierbar. Daher wird es für den Sound Gottes nie ein Patentrezept oder ein Lehrbuch geben. Auch keine Bevorzugung oder den Ausschluss von Stilen, Genres, Instrumenten. Wenn ich bekunde, dass es auch nichtmusikalische Klangereignisse waren, in denen ich Gottes Gegenwart wahrgenommen habe, dann will ich damit auch nicht professionelles und laienhaftes Musizieren gegeneinander ausspielen. Bei allem Willen, alles in eine kirchenmusikalische Situation einzubringen, was man kann und was das Stück erfordert, es muss etwas obendrauf kommen, was nicht im Stück selber liegt und nicht in der musikalischen Qualität seiner Aufführung.

Es ist ein Loslassen, ein Offensein für die Gegenwart Gottes.

Sondern?

Es ist ein Loslassen, ein Offensein für die Gegenwart Gottes. Diese Haltung kann man sich aber auch vornehmen, schon bei der Planung der kirchenmusikalischen Situation. Zwecksetzungen abschütteln, die von außen an die Situation herangetragen werden, wäre vielleicht eine Konsequenz. Sich das Improvisieren in der Situation zutrauen. Die Situation ganzheitlich denken, inklusive Raum und allen analogen und sonstigen Medien. Alle Medien als Aktanten begreifen. Spielende und Hörende als im selben Boot sitzend auffassen. Vielleicht Arrangements riskieren, die die Hörenden zu Mit-Spielenden machen über das Singen von Gemeindeliedern hinaus. Das sind vorläufige und vorsichtige Vorschläge. Keine Rezepte.

Sie sagen, dass Gott von selbst schon tönt und es daher keiner Musik mehr bedarf. Kann man diesen radikalen Ansatz auch auf andere Handlungen im Gottesdienst wie Sakramente oder Liturgie übertragen und diese damit ebenfalls als überflüssig erklären?

Bayreuther: Das sage ich nicht. Was ich sage, ist: Gottes Wirken in Bezug auf Klänge müssen wir uns physisch real vorstellen. Gott ist nicht die erste Ursache, die den Weltenlauf anstieß, sich in Christus dann nochmal manifestierte und dann zurückzog. Er greift ein und verändert den Lauf der Dinge, und die Menschen bemerken das und werden in seinen Bann gezogen. Aber nicht entgegen der Naturgesetze, in der Akustik also der Gesetzmäßigkeiten der Schwingungsmechanik. In den Bahnen der Schwingungsmechanik gedacht kann man sich dieses Eingreifen Gottes daher als einen Faktor im Schwingungsereignis vorstellen, den wir nicht kennen und der unserer menschlichen Analyse nicht zugänglich ist, den wir aber dadurch bemerken können. Aber welche Klänge das sind, muss man offen lassen.

Es können also auch Klänge jenseits von dem sein, was wir klassisch unter 'Musik' verstehen?

Bayreuther: Die Sounds, die im willenlosen Spiel der natürlichen Kräfte entstehen, möchte ich ausdrücklich einbeziehen, weil ich mir empirisch sicher bin, dass viele Menschen, einschließlich mir, dort Gotteserfahrungen machen. Aber darüber hinaus hebe ich die Sounds hervor, die Menschen mit Absicht und Vorsatz erzeugen, also Kirchenmusik. Sie sind unbedingt ein Erscheinungsort Gottes. Am Begriff des Melos zeige ich, wie die Griechen tanzten, sangen und spielten, um einen Gott, dessen Nähe sie vermuteten, wahrzunehmen. Ästhetik und Kunstfertigkeit sind hier nicht unerheblich, sie sind die menschliche Weise, sich Gott zu nähern. Aber sie sind nur der Weg dahin. Das scheint mir das angemessene Verständnis auch für die christliche Kirchenmusik. Ob es auch das Angemessene für die Sakramente und für die Liturgie ist, wage ich so schnell nicht zu sagen. Sicher ist aber, wenn der Protestantismus mit Recht das katholische Liturgieverständnis zurückweist, dass ein befugter Amtsträger, wenn er die Liturgie praktiziert, die Gegenwart Gottes wie mit einem Werkzeug herstellt, dann darf er nicht einfach ins blanke Gegenteil verfallen und die Liturgie nur als erinnerndes Symbol für Gott auffassen, ohne dass er die präsentische Gegenwart Gottes wirklich erhofft. Genau diesen Anspruch an sich selbst muss auch die Kirchenmusik stellen.

Sie plädieren für eine neue "Haltung der Hingabe", wenn wir Gott in der Kirchenmusik loben wollen. Heißt das, die Dinge musikalisch einfach mal laufen zu lassen, ohne Rücksicht auf jegliche Musiktheorie oder Hörpraxis?

Bayreuther: Hingabe ist das Absehen von sich selber, von Zwecken, Aufträgen, Kosten-Nutzen-Rechnungen. Es ist aber nicht das unbedingte Laufenlassen. Hingabe ist immer Hingabe an etwas. An dem richtet man sich dann bedingungslos aus, sonst ist es keine Hingabe. Hingabe ist in keiner Weise rücksichtslos, sondern höchste Rücksichtnahme. Die entscheidende Frage ist, an was geben wir uns hin beim kirchlichen Musikmachen? Wenn wir hier sagen, nicht an das Musikstück, sondern an Gottes Erscheinen in einem klanglichen Vorgang, dann kommt ein entscheidendes Merkmal heraus, auf das ich im Schlusskapitel des Buchs insistiere.

Ein bewussterer, ein gestalteter Einsatz aller Klangmedien, die im Spiel sind. In diese Richtung sollten wir denken.

Welches Merkmal?

Bayreuther: Göttliche Gegenwart ist ein schwer zu greifendes Geschehen. Man kennt nicht Anfang und Ende, man kennt nicht den Verlauf. Das ist ein Unterschied zu einem durchkomponierten Musikstück, das linear abläuft und linear performt werden muss. Hingabe an Gott ist Hingabe an etwas, von dem man immer nur den Moment übersehen kann, nicht aber das Ganze in allen seinen Dimensionen. Musikalischer Sachverstand ist nicht unnütz, aber es muss etwas dazukommen, eine Sensibilität für den Moment. Vielleicht kann man das andeutungsweise mit der guten alten Kirchenmusikertugend des Improvisierens beschreiben. Ich würde mir in der Kirche musikalische Ereignisse mit mehr Mut für Ergebnisoffenheit und radikale Gegenwärtigkeit wünschen. Das ist dann aber auch der Mut, den linearen Verlauf eines Musikstücks, das man als Ausgangspunkt wählt, hinter sich zu lassen. Sonst bleiben wir in der Kirchenmusik immer auf der Seite von Ausdrucksgestalten hängen, die es schon gibt.

Sie skizzieren eine "partizipative Kirchenmusik" – welche Empfehlungen geben Sie Gemeinde und Musizierenden, wie sie dieses Ideal umsetzen können?

Bayreuther: Ein Weg, wie man sich dem nähern kann, ist, die elementaren Ebenen von Klangerfahrung aufzusuchen. In einen gegebenen Klang oder Rhythmus einzustimmen vollzieht sich in sehr elementaren Gesetzmäßigkeiten, die viel mit Nähe und Abständen, mit Räumen und ihren Resonanzbedingungen, mit Körpern, den menschlichen und den unbelebten, zu tun haben. Das sind alles Medien beziehungsweise die oben erwähnten Aktanten. Elektronische Medien, geschickt eingesetzt, können diese basalen medialen Gegebenheiten artikulieren. Unsere Kirchenmusik ist beladen mit komplexen Semantiken und Symbolen, schon in einem einfachen Kirchenlied, noch mehr in den größeren kompositorischen Formen. In der gottesdienstlichen Realität geht es für die ungeübten Gottesdienstbesucher oft nur darum, die musikalischen Teile halbwegs unbeschadet zu absolvieren und einen kleinen musikalischen oder theologischen Brocken für ein paar Momente im Bewusstsein festzuhalten.

Was schließen Sie aus dieser Diagnose?

Bayreuther: Weil wir das katholische Liturgieverständnis der Herstellung von göttlicher Gegenwart über Symbole und geweihte Gegenstände nicht haben und auch nicht wollen, kommt es im evangelischen Gottesdienst auf die klangliche Performance selber an. An anderen Kulturen und Religionen, die ebenfalls kein symbolisches, sondern ein performatives Verständnis von göttlicher Präsenz in Musik und Klang haben, können wir lernen, dass sie sich für die Performance mehr Zeit lassen, dass sie in gewisser Weise elementarer ist und für jeden einzelnen Anwesenden leichtere Einstiege bietet. Das muss am Ende kein musikalisches Downgrading sein. Aber zunächst ein bewussterer, ein gestalteter Einsatz aller Klangmedien, die im Spiel sind. In diese Richtung sollten wir denken.

Hinter einer vermeintlichen Angst der Kirche vor der Digitalisierung vermuten Sie in Wahrheit eine Angst vor Gott. Polarisiert ein solcher Vorwurf nicht viel mehr, als er zum Nachdenken anregt?

Bayreuther: Polarisiert wird mit Aussagen, die eine Sache absichtlich verkürzt darstellen. Ich habe mir die Mühe gemacht, ein ganzes wohldurchdachtes Buch zu schreiben. Andere sind auf dem Themenfeld Kirchenmusik schneller mit Thesen zur Hand, die mainstreamiger sind und an denen das Polarisierende nicht so auffällt, aber in Wahrheit sind sie es, weil sie sich der tieferen Analyse verweigern. Was andere mit meinen Gedanken tun, habe ich nicht im Kalkül.

Aus dem biblischen Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen wurde im Lauf des abendländischen christlichen Denkens eine Art Menschenebenbildlichkeit Gottes.

Was ist das Zentrale an Ihrer Diagnose?

Bayreuther: Dass aus dem biblischen Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen im Lauf des abendländischen christlichen Denkens eine Art Menschenebenbildlichkeit Gottes wurde. Das begann massiv in der Aufklärung, und es imprägniert oft die Art und Weise, wie gegenwärtig im kirchlichen Feld die Digitalisierung beurteilt wird. Ich will damit nicht alles über einen Kamm scheren. Die Landeskirchen haben die Relevanz des Themas Digitalisierung erkannt, vielleicht spät, aber sie haben es, und es gibt mittlerweile einen vielfältigen Diskurs.

Geht der denn aus Ihrer Sicht in die richtige Richtung?

Bayreuther: Teils sind es höchst spannende Überlegungen, aber unüberhörbar ist auch eine reservierte Fraktion, die ziemlich geradlinig sagt, die Digitalisierung untergrabe die Humanität des Menschen, und weil die Teil und Krone der göttlichen Schöpfung sei, müssten die Christen hier die rote Linie ziehen. Dieser Haltung liegt meines Erachtens die Umkehrung zur Menschenebenbildlichkeit Gottes zugrunde. Der Punkt ist nun, auch die evangelische Kirchenmusik hat sich, meist ohne es so zu kennzeichnen und wohl auch meistens ohne sich genau darüber im Klaren zu sein, dem Grundgedanken der Humanität verschrieben.

Woran machen Sie das fest?

Bayreuther: Indiz ist das Abgleiten des Redens über Kirchenmusik ins Emotionale und Ethische oder die Tendenz zum Storytelling, die ich immer wieder darauf zurückführe, dass die Kirchenmusik es vielfach aufgegeben hat, wirklich die göttliche Gegenwart zu suchen. Und suchen heißt eben, aufzubrechen, sein Ego und seine Befindlichkeit zurückzulassen, sich selber und seine Zwecksetzungen nicht mehr so wichtig zu nehmen. Wenn mein Gottesbegriff triftig ist, dass Gott das letztlich Inkommensurable ist, auch das unser Menschendasein Übersteigende, selbst in der Menschwerdung in Jesus, dann müssen wir ihn außerhalb unserer selbst suchen. Das heißt weder, dass wir wie die Mystiker zu einem Jenseits streben sollen in der Kirchenmusik, noch dass das Menschliche durchgestrichen werden soll.

Mit dem ganzen Körper eine göttliche Realität zu erspüren, vielleicht so wie ein Blinder einen Gegenstand ertastet oder Politiker Bäume umarmen, das scheint mir die angemessene Haltung für eine Kirchenmusik, die nach göttlicher Gegenwart dürstet.

Was heißt es stattdessen?

Bayreuther. Die meines Erachtens angemessene Haltung habe ich im Buch mit dem griechischen Wort "Melos" erläutert, in dem ursprünglich das Pluralwort "Melea" steckt, die Körperglieder. Mit dem ganzen Körper eine göttliche Realität zu erspüren, vielleicht so wie ein Blinder einen Gegenstand ertastet oder Politiker Bäume umarmen, das scheint mir die angemessene Haltung für eine Kirchenmusik, die nach göttlicher Gegenwart dürstet. Freilich, sie muss nach etwas tasten, von dem sie nicht in allen Einzelheiten weiß, was und wie und wo es ist. Musik oder allgemeiner: Sound ist ihr Medium dafür. Ein Sound auf der Suche nach Gott, das ist am Ende immer eine klangliche Versuchsanordnung, auch dann, wenn man mit den althergebrachten Instrumenten und Stücken der Kirchenmusik arbeitet.

Aber eben nicht nur dann.

Bayreuther: Richtig. Diesen Gedanken kann man nun umgekehrt formulieren. Wir Christen brauchen keine Angst davor zu haben, wenn die moderne Technologie die Funktionalitäten des Menschen Schritt für Schritt optimiert und technisiert. Die Technologie tut das, weil sie es kann, das heißt weil es im Sein des Menschen und der Welt angelegt ist, dass die Funktionalitäten informationstheoretisch beschrieben und damit emuliert werden können. Das ist eben Teil der göttlichen Schöpfung. Das vom Humanismus her als Missbrauch der Schöpfung zu verstehen will mir nicht einleuchten.

Wofür plädieren Sie stattdessen?

Bayreuther: Technische Anordnungen zu verstehen, die Rolle des Menschen in ihr zu begreifen, der immer nur Summand in einem Ganzen ist, das mehr ist als die Summe seiner Teile, begreife ich für mich als eine theologische Pflicht. Warum soll Gott in solchen Anordnungen nicht gegenwärtig sein können? Gerade da! Nicht weil sich der Mensch anmaßt, wie Gott zu sein, sondern im Gegenteil, weil der Mensch hier Demut lernen kann, indem er sich in etwas ihn Übersteigendes einfügt, dessen Eigenart durch Technologie erst erfassbar wird. Wenn manche Christen davor Angst haben, wovor haben sie dann eigentlich Angst? Irgendwie doch davor, sich selber zu verlieren. Das wäre aber doch ökologisch wie theologisch nicht die schlechteste Alternative. Die Digitalisierung der Kirchenmusik kommt genauso sicher wie die Digitalisierung der Musik überhaupt, die schon im vollen Gange ist. Die heilsökologischen Chancen sind hier genau dieselben wie bei der Digitalisierung generell. Ich sehe als Christ keinen guten Grund, sich dem zu verweigern.

Der Sound Gottes. Kirchenmusik neu denken

Rainer Bayreuther

Die Kirchenmusik ist zu einem Ohrensessel geworden, in dem man sehr weich und sehr tief sitzt. Zweifellos gehört die hörbare und gemeinschaftliche Ekstase unverzichtbar zur christlichen Frömmigkeit. Aber lässt sich daraus nicht viel mehr ableiten, als auf der Kirchenbank Gesangbuchlieder mit Orgelbegleitung zu singen oder den Kirchenchor auftreten zu lassen? Und ansonsten immer wieder Bach, Bach und wieder Bach. Rainer Bayreuther spricht sich leidenschaftlich für mehr experimentellen Mut in der Kirchenmusik, für den Einsatz auditiver Medien und die kreative Verknüpfung von digitaler und menschlicher Kommunikation aus. Gerade brandaktuell sind seine Ideen auch vor dem Hintergrund pandemischer Einschränkungen im Gemeindeleben.

Verlag: Claudius Verlag GmbH

Seitenzahl: 240

ISBN: 3532628597, EAN: 978-3532628591

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