Sonderbriefmarke für einen schwierigen "Lübecker Märtyrer"

Routinierte Gedenkkultur könnte sich mit dem Eintrag im evangelischen Heiligenkalender zufriedengeben: "Karl Friedrich Stellbrink (1943), Märtyrer in Lübeck" steht da an seinem Todestag. Seit dem 11. Oktober erinnert eine Sonderbriefmarke an den evangelischen Pfarrer, den die Nationalsozialisten vor 75 Jahren wegen "Wehrkraftzersetzung, Heimtücke, Feindbegünstigung und Abhören von Feindsendern" ermordeten. Zusammen mit drei Lübecker katholischen Geistlichen, den Kaplänen Hermann Lange, Eduard Müller und Johannes Prassek, starb er im Hamburger Gefängnis am Holstenglacis unter dem Fallbeil. Es war der 10. November, Geburtstag des Reformators Martin Luther.

Ein Zufall. Dennoch kommen in der schillernden Gestalt Stellbrinks einige Linien des deutschen Protestantismus zusammen – womöglich mehr, als heutigen Protestanten lieb ist. Wie viele andere seiner Kollegen war dieser evangelische Theologe ein leidenschaftlicher Judenfeind, ein Verächter der Weimarer Demokratie und des westlichen Konzepts der Menschenrechte. Der glühende Nationalist war seit 1933 NSDAP-Mitglied, er glaubte an eine "religiös fundierte und rassisch definierte (deutsche) Volksgemeinschaft" und deren historische Mission. Offenbar war er dazu noch ein schwieriger Charakter irgendwo zwischen "Wahrheitsfanatiker" und "unangenehmer Persönlichkeit", so das Urteil von Zeitgenossen.

Wie wird so einer zum Märtyrer und Widerständler gegen das NS-Regime?

Bayerische Spuren

Karl Friedrich Stellbrink wurde 1894 in Münster als Sohn eines Zollbeamten geboren. Mit der Schule tat er sich nicht leicht: 1913 verließ er das Gymnasium mit Mittlerer Reife. An der Düsseldorfer Kunstakademie wurde er nicht genommen. Stellbrink sattelte um auf Theologie: Gerade hatte die altpreußische Kirche in Soest ein Diaspora-Seminar eingerichtet. Es ging um die seelsorgerliche Betreuung der vielen deutschen Brasilienauswanderer, die es damals gab. Und hier wurde fürs Theologiestudium kein Abitur, sondern nur "Primarreife" verlangt.

Dann kam der Erste Weltkrieg. Stellbrink wurde Anfang 1915 eingezogen, im Januar 1916 wurde er an der Westfront schwer verwundet. Seine linke Hand blieb verkrüppelt. Der Kriegsversehrte machte das Abitur nach und schloss sein Studium ab. 1921 heiratete er seine Jugendliebe und wurde kurz darauf in Witten für das geistliche Amt in Übersee ordiniert.

Schon damals schloss er sich mehreren völkischen Verbindungen an: Er war im "Verein für das Deutschtum im Ausland" und Mitglied im "Alldeutschen Verband", einer Ansammlung ultranationalistischer Antisemiten und Rassisten, die schon seit den 1890er-Jahren für ein großdeutsches Imperium agitierte. Kurz bevor er im "deutschen Süden" Brasiliens 1921 eine Stelle antrat, gründete er mit drei Gleichgesinnten noch einen "deutsch-christlichen Heiland-Orden zu Witten an der Ruhr".

"Deutscher Christ" der ersten Stunde

In Brasilien kamen seine drei Kinder zur Welt, aber er scheint dort nie glücklich geworden zu sein – seine Gemeinde wohl auch nicht mit ihm. Ende 1929 ging Stellbrink zurück nach Deutschland, er bekam eine Pfarrstelle in Thüringen.

Vermutlich kein Zufall, denn Thüringen war die Brutstätte der nationalsozialistischen "Deutschen Christen". Deren Gründer waren zwei oberfränkische Pfarrer, die 1927 die bayerische Landeskirche verlassen hatten, weil sie dort mit ihren Ansichten keine Chance hatten: Siegfried Leffler und Julius Leutheuser. Im thüringischen Wieratal lagen ihre und Stellbrinks Pfarrstellen im Umkreis weniger Kilometer.

Die evangelische Kirche Steinsdorf in Thüringen.
Die evangelische Kirche Steinsdorf in Thüringen: Hier war der »Deutsche Christ« und »Lübecker Märtyrer« Karl Friedrich Stellbrink ab 1930 Pfarrer. Die thüringische Kirche war die Brutstätte der nationalsozialistischen »Glaubensbewegung Deutsche Christen«.

Leutheuser fiel 41-jährig bei Stalingrad; Leffler kehrte nach dem Krieg in den Dienst der bayerischen Landeskirche zurück, an deren Spitze damals Landesbischof Hans Meiser stand. Leffler legte ein "Schuldbekenntnis" ab, diente in Niederbayern in einer Vertriebenengemeinde und wurde sogar noch Ehrenbürger von Hengersberg.

Heillos zerstrittene Bewegung

In Thüringen entstand durch diese fränkischen Geburtshelfer die "SA Jesu Christi", die "Deutschen Christen". Sie forderten eine "Entjudung" von christlicher Botschaft und Praxis – zum Beispiel indem man sich vom Alten Testament verabschieden und das Neue Testament in seiner Deutung "säubern" wollte. "Rassenreinheit" sollte als Voraussetzung für die Kirchenmitgliedschaft gelten: Judenchristen seien aus der Kirche auszuschließen.

Stellbrink, "deutscher Christ" der ersten Stunde, war schon seit 1921 überzeugt, dass jede biblische Geschichte "nach deutschem Empfinden zu messen (sei), damit das semitische Empfinden aus dem deutschen Christentum entweicht wie der Beelzebub vor dem Kreuz", wie es in einem programmatischen Aufsatz der Verbandszeitschrift hieß.

Auch der Wechsel Stellbrinks 1934 an die Lutherkirche Lübeck war kein Zufall. Unter den schnell heillos zerstrittenen "Deutschen Christen" war in der Kirche der Hansestadt deren radikalstes Spaltprodukt führend: die "Nationalkirchliche Bewegung Deutsche Christen". Sie strebte bei "Überwindung und Beseitigung alles jüdischen und fremdvölkischen Geistes in den kirchlichen Lehr- und Lebensformeln" eine Nationalkirche an, die nicht mehr evangelisch (oder katholisch) sein, sondern, dem vom NS-Chefideologen Alfred Rosenberg geforderten "fünften Evangelium" folgend, einen "arischen Christus" anbeten sollte.

"Brauner Nebel vor den Augen"

Die neue Gemeinde – die Lutherkirche wurde 1937 eingeweiht – sollte nach den Plänen von Stellbrink und seinem Amtskollegen Gerhard Meyer zu einer "deutschkirchlichen" Mustergemeinde werden. 1935 fand hier die deutschkirchliche Gautagung statt: für "art­eigene Frömmigkeit – über alle Konfessionen und Dogmen hinweg". Bei Konfirmationen wurde gebetet: "Wir glauben, dass Deutschland, das Land und die Gemeinschaft deutscher Brüder und Schwestern, die Lebensordnung darstellt, der wir allein mit Leib und Seele verpflichtet sind."

Drei Bilder rund um die Lübecker Lutherkirche von 1937.
Die Lübecker Lutherkirche aus dem Jahr 1937: Am Portal grüßt eine heldische Lutherplastik (Fritz Behn). Hier war der »Lübecker Märtyrer« Karl Friedrich Stellbrink, ein glühender Nationalsozialist, ab 1934 Pfarrer. Im Inneren hat der Münchner Künstler Werner Mally die Holzskulpturen der »Deutschen Familie« von Otto Flath vor einem Spiegel umgedreht. Auf der Empore der Kirche befindet sich die Ausstellung »Gedenkstätte Lutherkirche«.

Von "braunem Nebel" vor seinen Augen sprach Stellbrink aber bald selber. Vielleicht trugen die Erfahrungen rund um seine Schwester dazu bei, dass dieser sich 1937 lichtete. Stellbrinks drei Jahre jüngere Schwester Irmgard war seit Mitte der 1920er-Jahre psychisch krank. Nach einer Odyssee durch diverse psychiatrische Heilanstalten wurde sie 1938 zur Zwangssterilisation vorgesehen. 1944 starb sie an Tuberkulose, Hunger und unterlassener medizinischer Versorgung.

Zwei der im Todesurteil gegen Stellbrink erwähnten "Pflegekinder" waren die Söhne seiner Schwester, die er und seine Frau bei sich aufgenommen hatten. Der ältere fiel 1940 an der Westfront.

Das Schicksal seiner Schwester

Den Umgang des NS-Staats mit Behinderten und psychisch Kranken kannte Stellbrink also aus persönlicher Betroffenheit. Dazu kam der Streit um die Jugend: Der Pfarrer wollte das Ende der kirchlichen Jugendarbeit nicht hinnehmen und geriet über die totalitären Ansprüche der Hitlerjugend mit dem NS-System in Konflikt. Stellbrink geißelte den Nationalsozialismus nun als "schlimmste Vergiftung des deutschen Geistes und der deutschen Seele". Wegen seiner Kritik wurde er 1937 aus der NSDAP ausgeschlossen. Er klagte dagegen vor dem Parteigericht. Am Ende stand die ehrenhafte "Entlassung" aus der Partei.

"Gott hat mit mächtiger Sprache geredet – die Lübecker werden wieder lernen zu beten".

Palmsonntagspredigt 1942 von Pfarrer Karl Friedrich Stellbrink

Von einem katholischen Kollegen, dem Kaplan Johannes Prassek, bekam Stellbrink 1941 die Anti-Euthanasie-Predigten des katholischen Bischofs von Münster, Clemens von Galen. Der evangelische Pfarrer ist jetzt öfter zu Gast in der katholischen Herz-Jesu-Kirche in Lübeck. Dort freundet er sich auch mit den Kaplänen Hermann Lange und Eduard Müller an. Stellbrink revanchiert sich, indem der den Katholiken die Proteste des Württembergischen Bischofs Theophil Wurm gegen die "Vernichtung unwerten Lebens" im NS-Staat weiterleitet. Gegenüber Gemeindemitgliedern verhehlt der Kriegsversehrte seine Ablehnung des Kriegs nicht. "Wer soll denn sonst die Wahrheit sagen, wenn nicht wir Priester", war nicht nur die Überzeugung des Kaplans Prassek.

"Stimme und Prüfung Gottes"

Als Stellbrink 1942 in seiner Palmsonntagspredigt den verheerenden Bombenangriff britischer Flieger auf Lübeck kurz zuvor öffentlich als "Stimme und Prüfung Gottes" bezeichnet, ist sein Schicksal besiegelt. Er wird von empörten Gemeindemitgliedern denunziert und am 28. Mai 1942 verhaftet. Stellbrink wird als Hochverräter vor dem "Volksgerichtshof" der Prozess gemacht. Unter dem Vorsitz des Freisler-Stellvertreters Wilhelm Crohne werden er und die drei katholischen Kapläne zum Tode verurteilt.

"Ich weise es zurück, als Bekenntnispfarrer angesehen oder auch genannt zu werden. Ich habe mit der Bekennenden Kirche nichts zu tun."

Gestapo-Protokoll

Seine "frühere deutschbewusste Haltung", wie es im Urteil heißt, rettete den evangelischen Pfarrer nicht. Ebenso wenig, dass er zu Protokoll gab, er erkenne "die Programmpunkte der NSDAP voll" an und wünsche "aufrichtig dem Führer persönlich die Vollendung seines Werkes." Auch dass er "im Übrigen als evangelischer Geistlicher nicht gescheut hat, sich mit einem Vertreter der den Protestantismus bekämpfenden katholischen Kirche im Kampf gegen den Staat zusammenzutun", warfen ihm die Nazi-Richter "im Namen des Deutschen Volkes" vor.

Nach mehreren Monaten in der Todeszelle wurden die vier Geistlichen am 10. November 1943 hingerichtet. Im Drei-Minuten-Takt fällt das Beil, das Blut der vier fließt ineinander.

Die evangelische Kirche tat sich nach 1945 schwer mit ihm

Nach dem Krieg hat man sich mit Stellbrink lange schwergetan in Lübeck und überhaupt in der evangelischen Kirche. Erst 1993 – anlässlich des 50. Jahrestags der Hinrichtung – wurde auf Betreiben des damaligen Lübecker Bischofs Karl Ludwig Kohlwage das Todesurteil formal als Unrechtsurteil aufgehoben.

Auch für die Ökumene erweist sich der Märtyrer Stellbrink als zwiespältig: Im Juni 2011 sprach die katholische Kirche die drei ermordeten Priester selig. Dass es sich bei der Gruppe christlicher Widerständler um ein ökumenisch gemischtes Team handelte, weist in die Zukunft und macht eine rein katholische Lesart dieses Widerstands unmöglich. Wie sollte man also katholischerseits mit dem evangelischen Mitstreiter der getöteten Priester umgehen? Man entschied sich für ein "ehrendes Gedenken". Aber ist ein leidenschaftlicher Antisemit die richtige Gesellschaft für Selige der katholischen Kirche? Und wie soll man andererseits damit umgehen, dass die "Ökumenebereitschaft" des Protestanten Stellbrink ihre Wurzeln im deutschchristlichen Traum von einer überkonfessionellen nationalsozialistischen deutschen Reichskirche hat?

Das Gedenken hat sich abgekoppelt

Heute hat sich das Gedenken so ziemlich von der historischen Gestalt abgekoppelt – jedenfalls gilt das für den Protestanten Stellbrink. Angesichts "neuer Feindbilder von islamischen oder jüdischen Gläubigen", von Hetze gegen Ausländer und Flüchtlinge, sagte die SPD-Staatssekretärin im Bundesfinanzministerium, Bettina Hagedorn, bei der Vorstellung der neuen Briefmarke, zeige das Beispiel der Lübecker Märtyrer, wie wichtig es sei, sich zu "Demokratie, zu unserem Rechtsstaat, zu den Grundwerten unserer Verfassung und eines einigen Europas zu bekennen". Der protestantische Ultranationalist, Antisemit und Demokratiefeind Stellbrink ist dafür nicht der allerbeste Zeuge.

Schon eher traf die Lübecker evangelische Bischöfin Kirsten Fehrs einen wesentlichen Punkt, wenn sie die Aufrichtigkeit aller Lübecker Märtyrer würdigte, die "Klartext" gegen den Krieg und die NS-Diktatur geredet hätten: "Sie wandten sich gewaltfrei gegen zwei Stützpfeiler des Systems: gegen die Lüge. Und gegen das Schweigen. Das Lügen der Wenigen und das Schweigen der Mehrheit – das ist die Grundlage für jede Diktatur."

Lübecks evangelische Bischöfin Kirsten Fehrs bei der Präsentation der Sonderbriefmarke (2018).
Lübecks evangelische Bischöfin Kirsten Fehrs bei der Präsentation der Sonderbriefmarke.

"Es ist richtig, dass ich in der Palmsonntagspredigt in der Lutherkirche gesagt habe: 'In der Not unserer Heimatstadt hören wir Gottes Stimme'. Es tut mir leid, wenn die Bevölkerung unter dieser Ausdrucksweise verstanden hat, dass wir Gottes Strafgericht hörten. Ich hatte das so nicht gemeint. (...) Wenn in der Bevölkerung meine Ausführungen so verstanden sind, als wenn nicht der Willen unserer Feinde auf Begehung der Kulturschande in Lübeck die Schuld an der Zerstörung Lübecks getragen hätte, sondern dass das die Schuld Gottes wäre, so halte ich das für absurd. Richtig ist, dass ich über die vom Engländer begangene Kulturschande nichts gesagt habe. Ich sehe ein, dass ich das wohl besser an diesem Tage mit hätte anführen sollen. Dass ich damit das Volksempfinden verletzte, habe ich weder gewollt noch gewusst. (...)
Dass ich gesagt haben soll, der Bombenangriff auf Lübeck wäre eine Vergeltung und ein Gottesurteil für das verhängte Christusbild, ist nicht richtig, im Gegenteil ich habe jeden Vorgang besonders behandelt, und habe dann verglichen und dazu gesagt, aus beiden Vorgängen spräche die Stimme Gottes. Wie schon gesagt, bedaure ich, wenn ich durch meine Ausführungen das Volksempfinden verletzt haben sollte."

Gestapo-Protokoll
Video des Erzbistums Hamburg über die Ausstellung »Gedenkstätte Lutherkirche« (2014): An der 1937 eingeweihten Lutherkirche war der »Deutsche Christ« und Antisemit Karl Friedrich Stellbrink ab 1934 Pfarrer. Am 10. November 1943 wurde Stellbrink nach einem Prozess vor dem »Volksgerichtshof« wegen »Wehrkraftzersetzung, Heimtücke, Feindbegünstigung und Abhören von Feindsendern« zusammen mit drei katholischen Geistlichen hingerichtet.