Fährt man von der großen Verbindungsstraße 60, die von Bethlehem nach Hebron führt, bei der Siedlung Neve Daniel rechts ab, wäre man über die kleine Gemeindestraße 3513 eigentlich recht schnell unten im Tal im arabischen Dorf Nahalin – und noch viel schneller auf den Feldern von Daoud Nassar.
Wäre man eigentlich. Aber die israelische Armee hat das Sträßchen mit Felsbrocken unpassierbar gemacht – aus Sicherheitsgründen, wie es heißt. So endet der Weg abrupt, und wo es zu Fuß weitergeht zu den Äckern und zum "Tent of Nations" der Familie Nassar, türmen sich Müll und Sperrmüll. Nur seien das gar nicht die jüdischen Siedler, die die gesperrte Straße als wilde Abfallkippe missbrauchten, sagt Daoud Nassar, sondern seine arabischen Nachbarn.
Die Dinge sind komplex
Wie immer und überall in Israel/Palästina sind die Dinge komplex – auch rund um das christliche Friedensprojekt "Tent of Nations". Als vor Kurzem deutsche Volontäre aus Jerusalem zu Gast waren, trafen sie zufällig Bewohner von Neve Daniel und kamen mit diesen ins Gespräch, berichtet Johanna Haberer, die Daoud Nassar während ihrer Zeit als Pfarrvertreterin auf dem Ölberg kennengelernt hat. Die jüdischen Siedler zeigten sich völlig ahnungslos von ihren christlichen Nachbarn und deren seit Jahrzehnten in Israel anhängigen Rechtsstreit um ihr Land.
In perfektem Deutsch berichtet Daoud Nassar, dass ihm die israelische Armee 2014 kurz vor der Ernte 200 Aprikosenbäume weggebulldozert habe (weil: "auf Staatsland gepflanzt"). Andererseits hätten seine muslimischen Nachbarn ihm vor zwei Jahren mehrere Tausende Weinstöcke zerstört. Aus Eifersucht und weil es auch unter den palästinensischen Nachbarn Menschen gibt, die ein Auge auf das Land geworfen haben, meint Daoud Nassar. Vielleicht spielen, wo die muslimischen Extremisten mehr und mehr Zulauf haben, inzwischen aber auch religiöse Gründe eine Rolle. Immerhin geht es um Wein, und den bauen andernorts häufig auch die jüdischen Siedler ganz bewusst an. Kurz: Es ist kompliziert, und wie häufig im Heiligen Land erfahren die Christen Druck von mehreren Seiten.
Christliche Minderheit in der christlichen Minderheit
Warum spricht Daoud Nassar so gut Deutsch? "Wir sind eine Minderheit in der Minderheit", erklärt der Palästinenser aus Nahalin südwestlich von Bethlehem. Er und seine Familie sind evangelisch-lutherische Christen. Nassars Großvater stammte ursprünglich aus einer griechisch-orthodoxen Familie. Er kam mit dem Missionswerk der schwäbischen Familie Schneller in Kontakt, wurde evangelisch und zu einem Mitgründer der lutherischen Gemeinde in Bethlehem.
Nur noch rund 1,5 Prozent der Palästinenser in den palästinensischen Autonomiegebieten sind Christen; in Israel liegt der christliche Anteil der arabischen Bevölkerung noch etwas höher. Doch einst waren rund 20 Prozent der Menschen im Heiligen Land Christen. Im lange ganz überwiegend christlichen Bethlehem stellen sie zwar noch immer den Bürgermeister, sind ansonsten aber selbst hier zur kleinen Minderheit geworden.
Bibelschule und Bielefeld-Bethel
1989 hat Daoud Nassar an der evangelischen Schule Talitha Kumi in Beit Dschala Abitur gemacht. Danach kam er über seinen Lehrer an eine Bibelschule in Österreich und legte dort auch noch die Matura ab. Anschließend studierte er in Bethlehem und absolvierte in Bielefeld ein Aufbaustudium in internationalem Tourismusmanagement. Gewohnt hat er damals in Bethel (das Bielefelder Stadtviertel trägt nach seinem evangelischen Gründer Friedrich von Bodelschwingh den biblischen Namen "Haus Gottes"), und zwar passenderweise im Nazarethweg.
"Wir sind die letzte christliche Familie in Nahalin",
sagt Daoud Nassar. Früher waren es 30. Viele der meist gut ausgebildeten und oft wohlhabenden palästinensischen Christen haben längst das Land verlassen und sind ausgewandert.
Daoud Nassar will bleiben
Daoud Nassar will bleiben. Dabei könnte man sagen, dass auch seine Vorfahren so etwas wie "Siedler" waren: Daoud Nassars Großvater Daher kam aus dem Libanon und kaufte 1916 das 42 Hektar große Gelände auf dem Berg oberhalb von Nahalin. Die ersten Urkunden, die den rechtmäßigen Besitz des Landes durch die Familie Nassar bezeugen, seien aus dieser noch osmanischen Zeit, sagt Nassar.
Inzwischen stehen auf praktisch allen Hügeln ringsum jüdische Siedlungen: Sie heißen Beitar Illit, Gva’ot, Rosh Tzurim, Elazar, Neve Daniel. Wobei Beitar Illit als "Siedlung" zu bezeichnen insofern irreführend ist, als es sich dabei um eine Stadt mit inzwischen rund 65 000 Einwohnern handelt.
Seit nicht weniger als 33 Jahren versucht die Familie Nassar, vor israelischen Gerichten ihren Grundbesitz rechtssicher festzuschreiben. Seit den Oslo-Abkommen liegt ihr Hügel im südlichen Teil des Westjordanlands im sogenannten C-Gebiet. Dort haben sowohl zivilrechtlich als auch in Sicherheitsfragen israelische Behörden die Kontrolle.
Prozess vor dem Obersten Gerichtshof
Seit Jahren beschäftigt das Verfahren um den Landbesitz der Nassars das oberste israelische Gericht, den Supreme Court. Es ist jenes Gericht, dessen umfassende Kompetenzen Israels Dauer-Premier Benjamin Netanjahu mit seiner umkämpften Justizreform beschneiden will.
2006 urteilte der Supreme Court, dass die Nassars die Wieder-Registrierung ihres Eigentums beantragen dürften. Nach vielen Verzögerungen und Behinderungen war der Antrag 2019 – 13 Jahre später – abgeschlossen. Doch auf einen Abschluss des Landregistrierungsprozesses warten die Nassars und ihr Jerusalemer Anwalt Sani Khoury bis heute. Umgerechnet mehr als 250 000 Euro haben sie die juristischen Auseinandersetzungen bereits gekostet, berichtet Daoud Nassar. "Aber wir sind immer noch da und haben kein Land verloren."
Wer sein Land nicht bebaut, verliert es
Die Nassars sitzen jedoch weiter in einer Zwickmühle: Auf ihrem offiziell nicht registrierten Land dürfen sie ohne Genehmigung nichts bauen. Ohne abgeschlossene Landregistrierung sind Baugenehmigungen aber nicht zu bekommen. Auf der anderen Seite hat Israel einen Teil des alten osmanischen Bodenrechts übernommen: Wer drei Jahre sein Land nicht bewirtschaftet, verliert seinen Anspruch darauf. Das Land fällt dann als Brachland zurück an den Staat – nur heute eben nicht mehr an das Osmanische Reich, sondern an die israelischen Behörden. Die Nassars müssen ihr Land also kontinuierlich weiterbewirtschaften, allen Hemmnissen zum Trotz, um es zu behalten.
Der Nassar-Hügel liegt am alten Patriarchenweg, der ins nahe Hebron führt. Dort befinden sich die Gräber der israelitischen Erzeltern: Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob und Lea sollen in der "Höhle Machpela" bestattet worden sein, die Abraham von den Hethitern erwarb – rechtmäßig, wie die Bibel betont (1. Mose 23). Es war das erste Stück des verheißenen Landes in israelitischem Besitz.
Höhlen statt Hochbau
Höhlen gibt es auch auf dem karstigen Hügel der Familie Nassar viele. Wo man nicht in die Höhe bauen kann, eignen sie sich ausgezeichnet als Unterkunft. So gibt es, neben ein paar Containern und Behelfsbauten, vor allem ausgebaute Höhlen auf dem Gelände: eine "Tent of Nations"-Kirchenhöhle, eine Küchenhöhle, eine Versammlungshöhle und noch ein paar mehr. Schon Daouds Vorfahren nutzten sie und lebten in den Höhlen. In den heißen Sommern auf den Hügeln Judäas sind sie angenehm kühl und in den regnerisch-kühlen Wintern angenehm warm.
Strom liefert eine Fotovoltaikanlage, die 2010 der "Cap Anamur"- und "Grünhelme"-Gründer Rupert Neudeck (1939-2016) spendierte. Doch als nicht genehmigter Schwarzbau ist sie vom Abriss durch die israelischen Behörden bedroht.
Felsen und Hürden
Auch die Ernte zu verkaufen ist schwierig für die Familie Nassar: "Wir haben keinen Markt für unsere Produkte", klagt er. Der Grund sind nicht nur logistische Hürden wie die blockierte Straße. Aber diese macht anschaulich, wie einfach vieles sein könnte und wie viele Hürden es allenthalben gibt. Dabei sind nicht einmal zehn Kilometer in der Luftlinie, die zwischen der Geburtskirche in Bethlehem und dem Hügel der Familie Nassar liegen.
Einen "Blankoscheck" habe man ihnen schon für ihr Land angeboten, sagt Daoud Nassar. Die Verkaufssumme hätten sie selbst bestimmen und eintragen dürfen.
"Aber man verkauft nicht das Erbe des Vaters",
beharrt er. An vielen seiner palästinensischen Nachbarn nervt ihn deren "Opfermentalität", kategorisch an wirklich allem und jedem Missstand der israelischen Besatzung die Schuld zuzuschieben. Daoud Nassar will "Gerechtigkeit in Frieden", wie er sagt:
"Mit Gewalt kann man nur Gewalt produzieren – aber Resignation ist auch keine Lösung."
Deswegen hat die Familie Nassar ihren Kampf um ihr Land (auch) zu einem christlichen Friedensprojekt gemacht. "Internationale Aufmerksamkeit schützt uns und hilft dabei, weiterzumachen", sagt Nassar. Auf dem alten Patriarchenweg soll ihr "Tent of Nations" (Zelt der Nationen) ein Zelt der Gastfreundschaft für alle Völker und Religionen sein.
Volontäre aus Deutschland
Volontäre aus aller Welt, viele von ihnen aus Deutschland, helfen dabei, die Farm am Laufen zu halten. Zwischen vier und zehn Freiwillige seien es, die im Sommer bei der Ernte, beim Frauenbildungsprojekt in Nahalin oder bei Jugendfreizeiten mithelfen, berichtet Nassar.
Neben dem Weg der Gewalt, dem Warten auf Hilfe von außen oder der Auswanderung verficht Daoud Nassar einen "vierten Weg": den eines christlich fundierten gewaltlosen Widerstands. Sein Motto: "Wir weigern uns, Feinde zu sein!"
Vier Prinzipien formuliert der evangelische Christ für diese Feindschaftsverweigerung: "Wir weigern uns, Opfer zu sein; wir weigern uns, zu hassen; wir agieren aus dem Glauben heraus anders; und wir glauben an Gerechtigkeit."
Die gebeugte Haltung der Dhimmis
In den arabisch-muslimischen Mehrheitsgesellschaften mussten Christen als "Dhimmis" (und damit wie die Juden als Bürger zweiter Klasse markiert) jahrhundertelang vorsichtig und mit gebeugtem Haupt agieren. Vieles davon wirkt bis heute nach. Auch deswegen wird von palästinensischen Christen selten deutliche Kritik an den Missständen in der eigenen Gesellschaft geübt – ob es sich nun um Korruption oder den wachsenden muslimischen Extremismus handelt.
Zugleich häufen sich in Israel durch Juden verübte christenfeindliche Übergriffe. Priester werden angespuckt, Kreuze abgerissen, Kirchen beschmiert. Während Teile der linken europäischen Christenheit sich unkritisch mit den Palästinensern solidarisieren und dabei auch über Gewalt und Antisemitismus von dieser Seite hinwegsehen, unterstützen andererseits Teile konservativer US-Christen gezielt die jüdische nationalreligiöse Siedlungsbewegung.
Vielleicht müssen die Christen ihre Stimme deutlicher erheben – aber ohne sich der unkritischen Parteinahme für eine Seite verdächtig zu machen?
"Wir sollen als Christen Salz der Erde sein",
bringt es Daoud Nassar für sich auf den Punkt: "Auch eine Minderheit kann viel erreichen. Aber nicht in Angst zurückgezogen und hinter geschlossenen Türen." Es gehe darum, "das Evangelium nicht gegen etwas" zu leben, "sondern die gute Nachricht leuchten zu lassen".
Einmal im Monat ist evangelischer Gottesdienst in der Höhlenkirche des "Tent of Nations". Daoud Nassar wünscht sich eine Glocke für das unterirdische Gotteshaus. Neben dem Baulärm von den Hügeln und dem Muezzinruf aus dem Tal sollten sich auch die Christen zu Gehör bringen in diesem Land, in dem nie nur Juden und Muslime lebten. "Vielleicht bekommen wir die Glocke ja aus Deutschland", sagt Daoud Nassar. Er und seine Familie hoffen weiter – auf Gerechtigkeit, auf eine Zukunft für ihren Weinberg und auf ihren Feldern.
Weitere Informationen: tentofnations.org
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