"Der Gemeindepfarrer ist nicht dauerhaft vor Ort, ein emeritierter Pfarrer reist auf eigene Kosten und Gefahr für einige Wochen hin und her"
Warum waren Sie letzten September in Kiew?
Christiane Neukirch: Im April bin ich in den Kiew-Ausschuss im Dekanat München berufen worden, und mir wurde schnell klar, dass die Auslandsgemeinde in Kiew Unterstützung braucht. Aufgrund der Kriegssituation ist die Gemeinde momentan stark auf sich gestellt. Der Gemeindepfarrer ist nicht dauerhaft vor Ort, ein emeritierter Pfarrer reist auf eigene Kosten und Gefahr für einige Wochen hin und her. Es wurde angeregt, dass es gut wäre, wenn jemand aus Deutschland die Gemeinde besuchen könnte.
Da ich keine familiären Verpflichtungen habe, fiel es mir leicht zu sagen: 'Das kann ich machen.' Es war mir wichtig, die Gemeinde vor Ort kennenzulernen und zu schauen, wie ich konkret helfen kann.
Hatten Sie davor schon Interesse an der Ukraine?
Persönlich hatte ich schon lange eine Verbindung zur Ukraine. Ich habe in den 1990er Jahren Slawistik studiert, damals mit Schwerpunkt Russisch, und war bereits während meines Studiums in der Ukraine, unter anderem in Odessa, der Partnerstadt meiner Heimatstadt Regensburg. Diese Erfahrungen haben mich nachhaltig geprägt.
Als der Krieg 2022 im großen Stil ausgebrochen ist, hat mich das zutiefst erschüttert. Ich wollte helfen, sei es durch Spenden oder Unterstützung für Geflüchtete hier in Deutschland. Aber das Gefühl, von außen nur zusehen zu können, war schwer zu ertragen. Ich begann, Ukrainisch zu lernen, suchte nach Wegen, selbst in die Ukraine zu fahren, und fand schließlich durch eine Verkettung von Ereignissen meinen Platz im Kiew-Ausschuss. Diese Mitgliedschaft eröffnete mir schließlich die Möglichkeit, selbst nach Kiew zu reisen und die Menschen vor Ort zu unterstützen.
Verstehe. Wie war Ihr Eindruck? Hat sich das mit dem gedeckt, was Sie erwartet hatten, oder war es doch anders?
Es war anders, als ich es mir vorgestellt hatte, weil man sich das Leben im Krieg nur schwer ausmalen kann. Natürlich sieht man die schrecklichen Bilder in den Nachrichten. Aber ich habe mich gefragt: Wie leben die Menschen dort? Sitzen sie ständig in Bunkern, wenn Alarm ist? Ist das Leben nur noch düster? Ich hatte das Bild einer Stadt vor Augen, die quasi von einer dunklen Wolke umhüllt ist.
"Die erste Nacht war zunächst ruhig, und ich dachte: Ist hier wirklich Krieg? Doch dann kamen Raketenangriffe"
Und wie war es tatsächlich?
Als ich im Zug nach Kiew saß, wurde es merkwürdig real. In Polen fühlte ich mich sicher, doch sobald ich die Grenze überschritten hatte, war mir klar: Ab hier kann alles passieren. Die Umgebung sah gleich aus – kleine Gärten, Menschen auf der Straße –, aber im Kopf wollte es nicht zusammenpassen, dass hier jederzeit Beschuss möglich ist.
Die erste Nacht war zunächst ruhig, und ich dachte: Ist hier wirklich Krieg? Doch dann kamen Raketenangriffe, und man spürt sofort, wie präsent die Gefahr ist. Was mich jedoch am meisten überrascht hat, war die Koexistenz des Schrecklichen mit einem fast normalen Alltag.
Das müssen Sie erklären.
Natürlich gibt es Geschichten von Verlusten, zerstörten Wohnungen und geflüchteten Familien. Aber gleichzeitig leben die Menschen weiter: Sie gehen spazieren, besuchen Cafés, und das Leben scheint trotz allem zurückgekehrt zu sein.
Ich hatte das Gefühl, dass ich ein wenig Licht in dieses Dunkel bringen konnte – zumindest habe ich das gehofft. Aber was mich am meisten berührt hat, war, wie viel Licht ich selbst zurückbekommen habe. Die Menschen waren unglaublich herzlich, und Kiew ist eine wunderschöne Stadt. Klar, bei Alarm sucht man Unterschlupf, aber wenn es ruhig ist, pulsiert das Leben. Es war ein beeindruckender Aufenthalt, der mich tief bewegt hat.
Also entsteht dort so etwas wie eine andere Normalität?
Ja, genau. Trotz allem entsteht eine Form von Normalität, auch wenn man oft erst auf den zweiten Blick erkennt, was wirklich los ist. Im Straßenbild wirkt vieles alltäglich, bis man genauer hinschaut: Ein junges Pärchen läuft Arm in Arm – und dann sieht man, dass der Mann ein Bein verloren hat.
Eine Szene hat mich besonders berührt: Ich war in einem Park spazieren, hörte Musik und sah in einem Pavillon ein Klavier. Es war für jeden zugänglich, und zwei Männer, die sich offenbar gar nicht kannten, improvisierten gemeinsam ein Lied. Einer von ihnen trug noch eine Soldatenuniform. Er spielte Klavier – aber ich bemerkte erst später, dass er seine Melodie mit einem stark verletzten Arm spielte. Der Arm war in einer Art Metallgestänge fixiert, und er konnte die Tasten nur mit der ganzen Hand oder einzelnen Fingern berühren. Trotzdem schaffte er es, etwas Wunderschönes daraus zu machen.
Solche Momente zeigen, dass diese Normalität anders ist – geprägt von Schmerz, aber auch von beeindruckender Resilienz.
"Diese Haltung und der starke Zusammenhalt geben ihnen Kraft – das war für mich paradox, aber auch inspirierend"
Haben die Menschen trotzdem Hoffnung auf Frieden, oder dominiert die Verzweiflung?
Ich war im September dort, und damals hielt sich das noch die Waage. Was mich beeindruckt hat, ist, dass die Menschen sich nicht in negativen Gedanken verlieren. Anders als bei uns, wo viele ob der Weltlage verzagen, sind die Menschen dort sehr lösungsorientiert. Sie fragen nicht "Was passiert, wenn alles schlimmer wird?", sondern "Wie können wir das schaffen?" Diese Haltung und der starke Zusammenhalt geben ihnen Kraft – das war für mich paradox, aber auch inspirierend.
Ein Erlebnis verdeutlicht das: Ich war bei einem deutschen Stammtisch, zu dem auch einige Ukrainer kamen. Ein deutscher Journalist eröffnete die Runde mit einer sehr düsteren Analyse über die politische Lage und die schwierigen Perspektiven. Ich dachte nur: "Muss das sein, gerade vor diesen Menschen?" Doch die Ukrainer ließen sich davon nicht beeindrucken.
Eine ältere Frau, die unglaublich dynamisch wirkte und über 70 war, reagierte darauf mit Gelassenheit. Sie sagte: "Ich habe schon die Sowjetzeiten erlebt. Irgendwie haben wir es immer geschafft, und das werden wir auch diesmal. Wir dürfen nur nicht auf das Dunkle schauen, sondern auf das, was wir tun können."
Diese Haltung hat mich tief beeindruckt. Sie zeigt, wie die Menschen trotz allem einen unglaublichen Lebensmut bewahren.
Ich glaube, es ist für viele von uns schwer zu verstehen, warum die Menschen dort weiterkämpfen, obwohl der Krieg so viel Furchtbares bringt.
Genau, diese Frage stellen sich viele: Wäre es nicht einfacher, sich zu ergeben und unter Putins Diktatur zu leben? Aber das kann man nur begreifen, wenn man vor Ort ist. Die Menschen wissen genau, was sie verlieren würden – ihre Freiheit und Würde. Diese Werte sind für sie untrennbar mit ihrem Leben verbunden, besonders nach 30 Jahren harter Arbeit, um sich das zu erkämpfen. Das mag pathetisch klingen, aber für die Menschen ist es Realität. Sie wissen, wie es ist, unterdrückt zu werden, und sie sind bereit, alles dafür zu tun, das zu verhindern.
Spielt der Glaube dabei eine Rolle?
Auf jeden Fall. Ich habe das besonders in den Gottesdiensten erlebt, die ich besucht habe. Hier in Deutschland gehe ich auch in die Kirche, und das gibt mir oft Erfrischung. Aber dort in Kiew war es mehr als das – es war der zentrale Halt. Die Lieder, die gesungen wurden, waren oft Choräle, die im Dreißigjährigen Krieg entstanden sind, wie "Wer nur den lieben Gott lässt walten". Diese Texte hatten plötzlich eine andere, unmittelbare Bedeutung. Während eines Raketenalarms in der Kirche zu sitzen und zu hören: "Nun ist groß Fried ohn Unterlass" – das war tief bewegend.
Eine sehr intensive Erfahrung?
Absolut. Die Menschen nehmen große Risiken auf sich, um sonntags in die Kirche zu kommen. Sie fahren quer durch die Stadt, obwohl jederzeit Raketenalarm sein könnte. Und doch ist es ihnen wichtig, einander zu sehen, sich zu stärken und die Gemeinschaft zu spüren.
Die evangelisch-lutherische Gemeinde, die ich besucht habe, ist ein solcher Ort der Hoffnung. Auch die Musik spielt eine wichtige Rolle: Der Chor probt weiter, wenn auch weniger als in Friedenszeiten. Aber es sind diese Momente – das Singen, das gemeinsame Gebet, die Begegnungen –, die den Menschen eine Säule des Halts bieten.
Hatten Sie selbst Angst während Ihrer Zeit in Kiew?
Ja, die Angst war definitiv da. Natürlich versucht man, sich mit rationalen Gedanken zu beruhigen: Kiew ist als Hauptstadt gut geschützt, die Flugabwehr funktioniert meistens, und die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich getroffen zu werden, ist gering – vielleicht nicht einmal höher, als in einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen. Aber wenn Raketenalarm ist und man Explosionen hört, dann nützt einem der Verstand wenig.
"Noch bevor ich den Luftschutzkeller erreichen konnte, hörte ich schon den Einschlag"
Wie war Ihre erste Nacht in Kiew?
Die war schlimm. Es gab kaum Zeit, auf den Raketenalarm zu reagieren. Noch bevor ich den Luftschutzkeller erreichen konnte, hörte ich schon den Einschlag. Ich saß dann einfach zitternd im Badezimmer, weil ich dachte, das sei der sicherste Ort – keine Fenster. Da war die Angst unmittelbar, und ich musste erst lernen, damit umzugehen.
Wie sind Sie mit dieser ständigen Bedrohung umgegangen?
Viel geholfen hat mir eine Frau aus der Kirchengemeinde. Es war mitten in der Nacht, als ich Explosionen hörte. Sie hat mir sofort geschrieben: "Hab keine Angst, das war unsere Flugabwehr. Der Himmel ist jetzt sauber." Das hat mich so beruhigt, dass ich mich wieder hinlegen konnte.
Andere haben mir technische Tipps gegeben, etwa Apps, mit denen man unterscheiden kann, ob Raketen oder Drohnen unterwegs sind. Das hat mich eher überfordert. Die Chorleiterin Larisa gab mir dann den besten Rat: "Leg dich in den Flur, wo keine Fenster sind, und nimm das Gesangbuch. Wenn der Alarm kommt, dann sing."

Gab es eine Situation, die besonders einprägsam war?
Einmal war ich in der Kirche, um dem Mesner bayerisches Bier vorbeizubringen – das wollte er unbedingt mal probieren. Es war ein schöner Moment: Wir haben Bier getrunken, Wurstbrote gegessen, und die Organistin war auch da. Aber als ich gehen wollte, gegen 18 Uhr, kam der Alarm.
Ich war unsicher, ob ich schnell nach Hause laufen sollte oder lieber warten. Die anderen sind ruhig geblieben und haben gesagt: "Wir warten einfach ab." Es gab in der Kirche keinen Luftschutzkeller, aber sie waren so gelassen. Diese Haltung – nicht in Panik zu verfallen, sondern die Dinge hinzunehmen, wie sie kommen – hat mich tief beeindruckt.
Als ich gemerkt habe, dass ich wieder zu zittern beginne und nervös werde, habe ich mich gefragt, ob es nicht etwas gäbe, das wir tun könnten, um uns abzulenken. Und dann kam die Idee: "Lass uns singen!" Wir sind auf die Empore gegangen – nicht der beste Ort, aber trotzdem haben wir es gewagt. Der Mesner und ich haben "Wer nur den lieben Gott lässt walten" gesungen, begleitet von der Organistin. Nach den ersten drei Strophen war meine Angst tatsächlich weg.
"Die zentrale Lektion ist, dass es wichtig ist, direkt mit Menschen in Kontakt zu treten und zuzuhören"
Was war die wichtigste Erkenntnis aus Ihrer Reise?
Die zentrale Lektion ist, dass es wichtig ist, direkt mit Menschen in Kontakt zu treten und zuzuhören. Oft urteilen wir über andere, ohne die Situation wirklich zu verstehen – vom Sofa aus, sozusagen. Ich habe erkannt, dass es entscheidend ist, herauszufinden, was den Menschen dort wirklich wichtig ist, anstatt nur unsere eigenen Vorstellungen darauf zu projizieren.
Und was ist für die Menschen vor Ort am wichtigsten?
Für sie ist die Freiheit von entscheidender Bedeutung – etwas, das wir oft für selbstverständlich halten. Diese Freiheit und das Recht, ihre Identität zu leben, sind ihnen so wichtig, dass sie bereit sind, dafür den Krieg in Kauf zu nehmen. Der Begriff "Würde" hat für sie eine sehr greifbare Bedeutung. Bei uns steht im Grundgesetz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar", aber für sie ist das eine Realität, die sie täglich erleben. Wenn man nie in Gefahr ist, die eigene Freiheit zu verlieren, versteht man oft nicht, was das wirklich bedeutet.
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