Wann hat das Christentum begonnen? Mit der Geburt Jesu im Stall von Bethlehem? Oder doch erst mit der Mission des Apostels Paulus? Paul Tillich (1886-1965) gibt darauf eine ganz andere Antwort: Das Christentum nahm seinen Anfang, als bei Cäsarea Philippi ein Jünger zum ersten Mal bekannte: "Du bist der Christus."
Dieses Bekenntnis ist der Dreh- und Angelpunkt der Theologie Tillichs. Im Zentrum des Christentums steht für Tillich deshalb nicht etwa der Kreuzestod oder die Auferstehung, sondern die geschichtliche Tatsache, dass das göttliche Offenbarungswort in Jesus Christus Gestalt gewonnen hat: "Kein Mythos, keine mystische Schau, kein metaphysisches Prinzip, kein heiliges Gesetz hat die Konkretheit eines persönlichen Lebens."
Und dennoch ist dieses konkrete Leben von weltumfassender Bedeutung. Es ist die Antwort Gottes auf die Nöte des Menschen, seine Angst, sein Gefühl der Sinnlosigkeit, seine Erfahrung von Entfremdung und Entmenschlichung.
Das "Neue Sein"
Persönliche Schuld, Leiden, Tragik und Tod sind Ausdruck dieser Entfremdung. Zudem scheint die Weltgeschichte eine Kette unversöhnlicher Konflikte zu sein. Nicht eine Lehre oder ein Dogma kann diese Entfremdung aufheben, sondern es muss eine neue Wirklichkeit sein. Jesus der Christus ist diese neue Wirklichkeit, an ihm ist das "Neue Sein" offenbar. "Neues Sein" ist der zentrale Grundbegriff in Tillichs Denken. Es ist offenbar in Jesus dem Christus, es hat Gestalt gewonnen in seinem Wort, seinem Handeln und in seinem Leiden. Und: Dieses "Neue Sein" ist erfahrbar, nicht als Sache des guten Willens, sondern als Geschenk - aus Gnade.
Diese steilen Sätze hat Tillich nicht im Elfenbeinturm ausgedacht, er war wie kein anderer Theologe in ständigem Gespräch mit den geistigen und kulturellen Strömungen seiner Zeit, mit Existenzphilosophen, Tiefenpsychologen und Künstlern.
Sein Leben
Geboren 1886 in Starzeddel im heutigen Westpolen, hat er zunächst Theologie und Philosophie studiert und dann als Pfarrverweser in Lichtenrade gearbeitet.
Als Lehrvikar in Nauen lud er zu sogenannten Vernunft-Abenden ein. Dabei ging es um Themen wie "Mystik und Schuldbewusstsein" oder "Kultur und Religion".
1914 meldete sich Tillich freiwillig als Feldgeistlicher an die Westfront. Zu Anfang war in seinen Kriegsbriefen noch eine gewisse optimistische Stimmung zu erkennen, doch 1915 erlebte er die furchtbaren Kämpfe bei Sommepy-Tahure mit. Doch das Schwerste stand ihm noch bevor: die Hölle von Verdun. Tillich überstand die Kämpfe an vorderster Front und wurde mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet.
Die einfachen Landser schwärmten für seine Gottesdienste, die einen Rest von Kultur in einer sinnlosen Barbarei bedeuteten. Nie vergisst Tillich, die Ställe, Höhlen oder Ruinen, in denen die Gottesdienste gefeiert werden, mit Kunstdrucken auszuschmücken.
Gott ist das, was uns unbedingt angeht
Im Granathagel der Schlachtfelder verabschiedete sich Tillich vom preußischen Luthertum und dem überkommenen bürgerlichen Christentum. Er wusste, dass vielen Menschen Begriffe wie Sünde, Gnade oder Gott nichts mehr sagen, sinnentleert sind. Er begann deshalb damit, die Begriffe neu zu formulieren. Gott zum Beispiel war für Tillich "das, was uns unbedingt angeht". "Hier gibt es kein Ausweichen, keinen Augenblick der Gleichgültigkeit und des Vergessens", sagte er.
Den Begriff der Rechtfertigung ersetzte Tillich durch das "protestantische Prinzip". Das "protestantische Prinzip" greift dann, wenn etwas Endliches und Bedingtes sich mit der Würde des Unendlichen bekleidet. Das kann eine weltliche Macht sein, aber auch eine kirchliche Institution.
"Das protestantische Prinzip"
"Das protestantische Prinzip", so erklärte einmal der Theologe Heinz Zahrnt, "greift alle geheiligten Autoritäten, Mächte, Überlieferungen, Lehren und Institutionen an und unterwirft sie der Kritik. Es kämpft gegen jede Vergegenständlichung Gottes, es duldet keine heiligen Orte, Personen, Handlungen und Stunden: Niemand kann das Göttliche an Raum und Zeit binden."
Von diesem Prinzip aus wendet sich Tillich auch gegen den christlichen Fundamentalismus, der die Bibel ausschließlich wörtlich versteht. "Der Fundamentalismus versagt vor der Gegenwart, weil er etwas Zeitbedingtes und Vorübergehendes zu etwas Zeitlosem und ewig Gültigem macht. Er hat in dieser Hinsicht dämonische Züge."
Soziale Gerechtigkeit
Ein weiteres Anliegen war Tillich die soziale Gerechtigkeit. Als Professor in Frankfurt wurde er Mitglied der SPD. Als er dann Anfang 1933 seine Schrift "Die sozialistische Entscheidung" vorlegte, geriet er ins Visier der Nationalsozialisten. Im April 1933 verlor er als einer der ersten nicht jüdischen Professoren sein Amt. Von seinen ehemaligen Kollegen musste er überredet werden, ins Exil zu gehen; im Sommer 1933 emigrierte er dann in die USA. In Rundfunkansprachen prangerte er Hitlers Judenverfolgung an und betonte gleichzeitig immer wieder, dass es ein anderes, antifaschistisches Deutschland gebe.
Seine Theologie fand großes Interesse - weit über kirchliche Kreise hinaus. Er formulierte neu, was Theologie leisten muss: "Sie muss die Wahrheit der christlichen Botschaft aussprechen, und sie muss diese Wahrheit für jede Generation neu deuten. Theologie steht in der Spannung zwischen zwei Polen: der ewigen Wahrheit ihres Fundaments und der Zeitsituation, in der diese Wahrheit aufgenommen werden soll."
Paul Tillich wurde in Harvard mit den höchsten akademischen Würden geehrt. Er zählt zu den bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts, weil er die Evangelische Theologie zur Philosophie und zur Kultur hin geöffnet und die christliche Botschaft neu in seiner Zeit interpretiert hat. Tillich starb am 22. Oktober 1965 in Chicago.