Christoph Bieber ist Professor für Ethik in Politikmanagement und Gesellschaft an der Universität Duisburg-Essen (UDE) und Professor am Center for Advanced Internet Studies (CAIS). Er forscht über ethische Fragestellungen bei Smart Cities in Deutschland und ist im interkommunalen Ethikbeirat Niederrhein tätig. Im Podcast Ethik Digital spricht er mit den Hosts Rieke Harmsen und Christine Ulrich über Chancen und Herausforderungen von Digitalisierung in deutschen Städten.
Rieke Harmsen: Die Zukunft sieht blendend aus in einer künftigen Smart City: Wir können den Lärm vermindern, Parkplätze managen, die Leerung von Altglascontainern koordinieren, um nur ein paar Beispiele für eine digitale Stadt der Zukunft zu nennen. Christoph Bieber, was fasziniert Sie an Smart Cities?
Christoph Bieber: Ob das so blendend aussieht, müssen wir noch besprechen. Für mich sind Smart Cities insofern interessant, weil sie mich in die 1990er Jahren zurückführen. Schon damals gab es Akteure, die sich damit auseinandergesetzt haben, was es bedeutet, wenn in der Stadtverwaltung mit vernetzten Daten gearbeitet wird. Können wir Bürger*innen dann neue Informationen liefern und sie direkt beteiligen? Mich fasziniert dieser Weg von den klassischen Städten zu modernen Ansätzen seit langem.
Wir können neue Informations-, Kommunikations- und Beteiligungsräume schaffen, natürlich unterfüttert durch neue Technologien und einer Sensorik, die es vorher nicht gab.
Christine Ulrich: Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da? Welche Erfahrungen haben Sie als Mitglied des Ethikbeirats Niederrhein?
Christoph Bieber: Es gibt viele Städte in Deutschland, die sich ganz intensiv mit Fragen von Digitalisierung im urbanen Raum auseinandersetzen und in denen sich viel auch über Unternehmen, die sich dort ansiedeln, entwickelt: Dazu gehören Großstädte wie Hamburg oder München, aber es gibt auch viel kleinere Städte und Regionen, die sich damit beschäftigen. Auch der ländliche Raum versucht, Lösungen zu entwickeln, etwa in NRW im Raum Ostwestfalen-Lippe oder das Programm "Starke Heimat Hessen".
Es ist gar nicht so einfach, einen sinnvollen internationalen Vergleich herzustellen, weil sich die Städte in unterschiedlichen Weltregionen ganz anders digital entwickeln. Wir haben in Deutschland eine Entwicklung, die stark Politikgetrieben ist. Natürlich sind viele Unternehmen darauf aus, neue Lösungen anzubieten und sie im städtischen Umfeld umzusetzen. Aber es gibt eben auch sehr gut dotierte politische Förderprogramme, die versuchen, diese Entwicklung anzuschieben.
In den USA ist die Entwicklung viel stärker Unternehmensgetrieben. Da suchen sich Unternehmen Städte und sprechen Bürgermeister*innen an, um Pilotprojekte umzusetzen. Im mittleren Osten oder in China wird die Entwicklung ganz bewusst von staatlichen Akteuren angetrieben. Dort werden auch ganz andere Schwerpunkte gesetzt, weshalb so ein Vergleich gar nicht so einfach ist.
Rieke Harmsen: Wie steht es denn um die Verflechtung zwischen Wirtschaft und Politik in Deutschland? Sind Ethikbeiräte eine sinnvolle Einrichtung? Wo sehen sie diese Herausforderungen?
Christoph Bieber: In Deutschland gibt es einige Ethikbeiräte für Smart Cities, man hat in Darmstadt, Ulm oder Paderborn damit experimentiert. Ich bin Mitglied im Ethikbeirat Niederrhein, dort beschäftigen wir uns mit Entwicklungsprojekten, die stark mit digitaler Technologie und Daten zu tun haben, und dort werden eben ethische Aspekte diskutiert. Und der Ethikbeirat ist ein Versuch, die Stadtgesellschaft - und damit meine ich jetzt eben nicht nur Politik, Verwaltung und Wirtschaft, sondern auch Bürgerinnen und Bürger - dafür zu sensibilisieren, was gerade geschieht. Wenn im Stadtbereich Daten genutzt werden, geht es um die Frage, wem diese Daten gehören: Dem Unternehmen oder der Stadt?
Manche Bürger sagen: "Wenn ich mit dem Fahrrad über einen bestimmten Radweg fahre und Sensoren dies messen, produziere ich doch die Daten, habe ich denn da keinen Anspruch darauf?" Und wir stellen fest, dass es helfen kann, über den Ethikbeirat verschiedene Perspektiven zu entwickeln.
Rieke Harmsen: Bleiben wir bei diesem Beispiel: Wie sieht denn eine konkrete Lösung dafür aus?
Christoph Bieber: Wichtig ist, dass dies die beteiligten Akteure untereinander klären. Einen wirklichen Kampf um die Daten zwischen Unternehmen und Städten habe ich noch nicht beobachten können, aber natürlich geht es darum, sich zu arrangieren und die Frage um die Daten zumindest mal zu thematisieren. Derzeit geht es oft eher darum, etwas gemeinsam zu entwickeln.
Wie bekommen wir die Ethik in die digitale Stadt
Christine Ulrich: Gibt es denn eine Art Narrativ für die digitale Stadt? Richtet sich das nach der Politik der Parteien?
Christoph Bieber: Das ist ein guter Punkt, aber ich glaube, das ist im Moment gar nicht so ein großes Problem. Wir befinden uns da vielleicht noch in einer Phase, wo das ganze politisch noch gar nicht so umstritten ist. Denn zunächst kommt viel Geld in die Stadt, das ich für Entwicklungs- und Innovationsprojekte eingesetzt werden kann. Das finden sehr viele Städte gut, auch aus politischer Perspektive.
Rieke Harmsen: Wie steht es um das Thema Mobilität?
Christoph Bieber: Bei der Mobilität geht es vor allem um die Frage, wie wir das besser regulieren und verteilen können. Dafür benötige ich Daten, doch woher kommen die? Direkt aus den Fahrzeugen? Oder bekommen Ampeln bessere Sensoren? Oft sind das sehr kleinteilige Daten, also zum Beispiel werden die Abstände zwischen den Autos und den Fahrrädern gemessen, um die Abgrenzung der Fahrbahnen zu verbessern.
Und als breiteren Strang geht es dabei natürlich um Fragen von Klima und Umwelt. Beim Hochwasser geht es darum, die Niederschlagsmengen zu messen mit der Idee, die Städte so zu entwickeln, dass sie besser auf solche Ereignisse reagieren können.
Christine Ulrich: Und welche Rolle spielt die Künstliche Intelligenz?
Christoph Bieber: Dieses Thema kommt jetzt neu hinzu, wobei das derzeit eher ein glitzerndes Debattenthema ist und konkrete Lösungen noch nicht in Sicht sind. Zumindest habe ich in Deutschland noch nichts Überzeugendes wahrgenommen. Aber das wird uns in der nächsten Zeit sicher sehr beschäftigen.
Rieke Harmsen: Kritiker von Smart Cities warnen davor, dass die Diskriminierung zunehmen wird, Arbeitsplätze verdrängt werden und die digitale Kluft weiter vergrößert wird. Was meinen Sie dazu?
Christoph Bieber: Das ist ein wichtiger Ansatz, den Planer bedenken müssen, wenn sie sich überlegen, wo sie neue Technologien einsetzen. Wo fallen Daten an, mit denen ich gut arbeiten kann, die aber vielleicht automatisch das eine oder andere Stadtviertel ausschließen. Eine digitale Kluft kann entstehen, weil Smart-City-Projekte in der Regel nicht im gesamten Stadtbereich ausgerollt werden, sondern nur an einzelnen Stellen.
Und natürlich müssen wir genau hinschauen: Dort, wo Kameras, Radargeräte und andere Sensoren Daten erfassen oder Bürger ihre Daten preisgeben, ob sie es wollen oder nicht, gibt es auch einen Ansatz von Überwachung, und es ist eine zentrale Frage, wie dies von Stadtgesellschaften ausgehandelt wird.
Nicht jede Überwachung ist eine "böse" Überwachung, denn man verspricht sich auch einen Nutzen für die Bürger*innen. Aber wie man das ordentlich macht, dass niemand diskriminiert wird oder die Persönlichkeitsrechte nicht eingeschränkt werden, muss reflektiert werden. Das kann in einem solchen Ethikbeirat diskutiert werden – es macht die Umsetzung dieser Projekte nicht leichter.
Christine Ulrich: Wie steht es denn um demokratische Prozesse in der Stadt – also etwa digitale Wahlen oder die digitale Verwaltung?
Christoph Bieber: Smart Cities haben da leider oft einen blinden Fleck. Sie denken über die Stadt nach als Projektionsfläche, über die Infrastruktur und die Gebäude, sehen aber oft gar nicht den Bürger oder die Bürgerin. Wie wehrt man sich als Bürger in einer Stadt, die immer mehr wissen will, kann man sich einer "Smartifizierung" entziehen? Habe ich ein Widerspruchsrecht, und wie sieht das aus? - Das ist spannend und ein wichtiger Punkt, wenn es um Demokratie in Smart Cities geht.
Andererseits gibt es spannende Projekte in der Stadtverwaltung, bei denen es darum geht, die Organisation von Gemeinderatssitzungen zu demokratisieren. Inzwischen gibt es Ratsinformationssysteme, manche Stadtverwaltungen haben ihren Workflow mit Blick auf die Entscheidungsfindung sehr gut digitale abgebildet und so gestaltet, dass sich das Bürger*innen auch anschauen können. Diese Prozesse finden jedoch oft abseits der Smart City-Programme statt.
Rieke Harmsen: Wie sieht Ihr positiver Blick auf Digitalisierung in der Stadt der Zukunft aus?
Christoph Bieber: Da müssen wir gar nicht so weit blicken. Die Infrastruktur in den Städten ist schon ganz gut entwickelt. Es gibt so eine Form der unsichtbaren Digitalisierung auf der kommunalen Ebene. Und das zeigt einen Erfolg versprechenden Pfad, um über so etwas wie die Digitalisierung von Wahlen nachzudenken. Denn wir sind meilenweit davon entfernt, so etwas umsetzen zu können. Aber auf kommunaler Ebene sind wir jetzt schon gar nicht so weit weg von digitalen Beteiligungsszenarien.
In der Stadt Oberhausen wurde der Gemeinderatssaal mit Monitoren, Mikrofonen, Kameras ausgestattet, um die Ratssitzungen digital übertragen zu können. Zudem wurde hier ein Entscheidungs- und Abstimmungssystem eingeführt und zertifiziert, mit dem hybride Abstimmungen möglich sind. Dies könnte noch weiter geöffnet werden, um für bestimmte Fragen auch das Meinungsbild der interessierten Bürgerschaft einzuholen. Das ist technisch möglich, aber noch lange nicht die Praxis.
Und da sehen wir eine spannende Keimzelle für digitale Demokratie an einer Stelle, wo wir das nicht unbedingt erwartet hätten.
Rieke Harmsen: Reproduzieren wir mit der Technologie aber nicht auch Machtsysteme und Assymetrien?
Christoph Bieber: Dieses Problem ist mit Sicherheit gegeben, zumal diese innovativen Prozesse mit einem erheblichen finanziellen Aufwand und personellen Ressourcen zusammenhängen. Insofern kann es schon sein, dass wir eine Mehrklassengesellschaft bekommen, wenn es um Digitalisierung geht. Auch die Fördermittel tragen dazu bei – es gibt eine Landesförderung, die Bundesförderung, die europäische Förderung. Auch das führt zu einer Ungleichverteilung, was zu unterschiedlichen Geschwindigkeiten innerhalb der Städte führen wird. Und es kann hierarchische Entwicklungen geben, wenn es Städte gibt, die sehr datengierig sind und sehr viel von ihren Bürger*innen wissen wollen.
Das könnte zur Situation führen, dass eine Stadtverwaltung sagt, wir benötigen kein Beteiligungsverfahren, denn aufgrund der Datenlage können wir entscheiden, wie wir die Stadtviertel weiterentwickeln. Und ob das wirklich eine gute Idee ist für eine Stadtgesellschaft, das würde ich bezweifeln.
Christine Ulrich: Wie schätzen sie denn die Gefahr durch Desinformation oder Manipulation ein?
Christoph Bieber: Die Gefahr der Manipulation müssen wir im Sicherheitsbereich befürchten. Wir hatten in Nordrhein-Westfalen vor wenigen Wochen die Situation, dass ein IT-Dienstleister, der für die Datenverwaltung vieler Städte verantwortlich ist, gehackt wurde und etliche Rathäuser ihren Dienst einstellen mussten, weil sie keinen Zugriff auf ihren Terminkalender hatten und wieder analog arbeiten mussten. Das ist ein relevantes Sicherheitsthema.
Rieke Harmsen: Und wie steht es um Bildung und Kultur? Werden diese in Smart Cities künftig überhaupt noch gefördert?
Christoph Bieber: Kultur und Stadtkultur sind tatsächlich noch nicht so arg weit entwickelt. Vielleicht ist die Kulturförderung in Städten digitalen Projekten gegenüber noch nicht so aufgeschlossen. Es gibt hier und da dann mal wieder Projekte, die versuchen, Digitales explizit in den kulturellen Bereich zu verlängern, also Museen, die mit neuen Ausstellungsformaten im virtuellen Raum experimentieren, auch bei Opernaufführungen oder in Schauspielhäusern, das alles gibt es, aber es sind punktuelle Experimente, und da müssten wir stärker darüber nachdenken, inwiefern digitale Städte einen Kulturauftrag erhalten und umsetzen sollen.
Derzeit sind Verkehr, Mobilität, Klima und Umwelt dominant und die kulturellen oder auch Bildungsaspekte treten da nicht sonderlich in Erscheinung. Aber diese Frage der digitalen urbanen Kultur im Umfeld von Smart Cities ist ein tolles Thema, das darauf harrt, entdeckt zu werden.
Christine Ulrich: Wie optimistisch blicken Sie in die Zukunft?
Christoph Bieber: Ich sehe viele Chancen bei Smart Cities, weil wir über das Datensammeln lernen, wie solche Städte funktionieren und welchen Reichtum es hinsichtlich von Vielfalt gibt. Und es ist eine Chance, sich hier mit ethischen Fragen auseinander zu setzen.
Rieke Harmsen: Und was ist die größte Herausforderung?
Christoph Bieber: Die größte Herausforderung ist der Umgang mit den kommerziellen Unternehmen. Und das sind nicht nur die großen Akteure wie Google, Facebook, Apple, Amazon, sondern da kommen auch neue Akteure hinzu, die sich im Bereich der Datenerhebung im städtischen Bereich entwickeln.
Städte und die Stadtpolitik sind hier gefordert, ihre Entscheidungsmacht zu nutzen und bestimmte Dinge zu Regulieren. Wir müssen einen Weg finden, der Entwicklung und Innovation erlaubt und gleichzeitig den zügellosen Umgang mit Daten aller Art einschränkt.
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Der Podcast Ethik Digital erscheint einmal monatlich und wird von Rieke C. Harmsen und Christine Ulrich gehostet. Der Podcast erscheint als Audio, Video und Text. Alle Folgen des Podcasts Ethik Digital gibt es unter diesem Link. Fragen und Anregungen mailen Sie bitte an: rharmsen@epv.de
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