Im Kern der Adaption des Grusel-Klassikers stehen keine Schockeffekte oder von Fledermäusen, Särgen und Angst vor der Sonnenstrahlung geprägten Stereotype, sondern die Psychologie des Bösen – in Form des tatsächlich Mitte des 15. Jahrhunderts im Fürstentum Walachei lebenden Heerführers Vlad II., der nach orientalischem Vorbild eine autoritäre Herrschaft etablieren und einen Kreuzzug gegen das Osmanische Reich führen wollte. Da er dabei gerne seine Gegner bestialisch hinrichtete, erhielt er den Spitznamen "der Pfähler". Der Name "Dracula" stammt übrigens vom katholischen Drachenorden, 1408 gegründet, dem der Vater Vlads III. 1431 auf dem Reichstag zu Nürnberg unter Kaiser Sigismund von Luxemburg beigetreten sein soll.

Kreuzgangspiele Feuchtwangen spielen Dracula

Auch Vlad III. führte also den Beinamen "Dracula" – also zugehörig zum Orden. Und mit ihm kam im Mittelalter das Grauen in die Welt, schlich sich unter seiner Herrschaft wegen seiner Brutalität in alle Lebenswinkel seines Reiches und verbreitete Angst und Schrecken, saugte die Menschen regelrecht aus. Unsichtbar, wie ein kleines Virus ist dieses Böse nicht greifbar, aber eben überall. Vielleicht ist man in Zeiten von Corona schnell dabei, künstlerischen Ausdruck – soweit dieser in diesen Tagen überhaupt live konsumierbar ist – in Bezug zur Pandemie zu bringen. Und doch sind der Grundkonflikt der Dracula-Erzählung und die Psychologie ihrer Protagonisten so erschreckend modern. Bedenkt man, dass das Feuchtwanger Team die Dracula-Fassung von Intendant Johannes Kaetzler bereits 2020 auf die Bühne bringen wollte und dabei entsprechend langen Planungsvorlauf hatte, kann man hier allenfalls prophetische Voraussicht feststellen.

London als idealer Ort zum Errichten eines Schattenreiches

Die schien aber bereits Bram Stoker zu haben. Er lässt seinen ehemaligen transsilvanischen Heerführer Dracula (toll gespielt von Andreas Wobig), der sich nach dem Selbstmord seiner Frau vor vielen Jahrhunderten zum Bösen hinwendete, in das England des industriellen Zeitalters kommen, wo er sein Schattenreich als Untoter errichten will und sich dazu ein altes Haus in London gekauft hat. Vampir-Jäger van Helsing, intensiv überzeugend dargestellt von Achim Conrad, hat auch eine Erklärung, wieso das Böse sich ausgerechnet diesen Ort aussucht: "Die Menschen glauben nur noch, was sie sehen". Eine hochtechnisierte, immer oberflächliche Welt ist es, in der die Menschen den Bezug zu Natur und Spiritualität verloren haben und die Heimsuchung Draculas wie ein schleichendes Gift bestens wirken kann. Im Jahr 2021 scheint es, als ob diese gesellschaftliche Entwicklung mit Siebenmeilenstiefeln vorangeschritten ist.

Wenn van Helsing seiner Truppe von Vampir-Jägern, darunter die hochnäsige Ärztin Quincy (Lisa Ahorn), ihren morphiumsüchtigen Kollegen Seward (Urs Alexander Schleiff), der schrullige und lieber in der Vergangenheit lebende Diener James (Peter Heeg) oder die vermeintlich reine Schöne Mina (Lea Aumann), erklärt, warum Dracula mit seiner Masche in dieser gegenwärtigen Welt so schnell anknüpfen kann, dann klingt das ein bisschen nach Heute: Die Chance des Bösen sei "der Zweifel". Van Helsing weiß, dass niemand ihnen glauben und sie für verrückt erklären würde, wenn sie die Täuschungen Draculas, die so real daher kommen, aber einen tief sitzenden, verdorbenen Kern haben, versuchen würden zu entlarven.

Angst vor einem "Shitstorm"

Anders gesagt: Aus Angst vor einem "Shitstorm" versucht es van Helsing auf eigene Faust. Und das bedeutet: Das Böse muss von eigener Hand zur Strecke gebracht werden. Wie sich zeigt, reicht dafür nicht das Kreuz aus, vor dem Dracula und seine Vampir-Gespielinnen zwar zurück weichen, es sie aber allenfalls auf Distanz hält. Da muss schon der Pflock ran, der mit dem Hammer am Brustkorb angesetzt wird und mitten durchs Herz getrieben wird, um den Vampir zu töten.

Es ist aber Mina, die Draculas Verflossener im Antlitz gleicht und die deswegen im Fokus seiner Begierde steht, die mahnt, das Böse nicht mit denselben Mitteln zu schlagen. Sie sei es letztlich, die Dracula, der im Herzen sich nur nach Liebe sehnt, erlösen könne, indem sie ihn tötet und damit ihm die Totenruhe schenkt.

Bereits Bram Stoker, auf dessen roher Bühnenfassung seines Romans nun auch Kaetzlers Inszenierung fußt, stellte am Ende die Hoffnung auf eine Gegenwelt zu dieser Dystopie gegen die Finsternis: Die Hoffnung auf eine Welt, in der die Liebe am Ende doch siegt. So wendet sich die geläuterte Quincy dann auch am Schluss des Stückes an das Publikum und erklärt, dass Mina später glücklich verheiratet und ein Kind in diese Welt gesetzt hat. Das, so ihre Hoffnung, in einer Welt aufwachsen wird, die das Böse immer wieder aufs Neue überwindet.

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