Die christlichen Kirchen befinden sich an einer Weggabelung. Keine Frage: Wie sie sich für die Zukunft aufstellen, ist in einer multireligiösen, in Teilen auch nichtreligiösen Gesellschaft, existenziell. Das Thema wird daher oft und viel diskutiert.

Stefan Jürgens und Reimer Gronemeyer über die Kirche der Zukunft

Der katholische Theologe Stefan Jürgens und der evangelische Theologe und Soziologe Reimer Gronemeyer sprechen in unserer Talkreihe über "Die Kirche der Zukunft". Die Institution Kirche wird nach ihrer Meinung verschwinden. Gleichzeitig sehen sie das auch als Chance. Der Text ist eine gekürzte Version des Gesprächs, das auf Youtube zu sehen ist.

 

Herr Gronemeyer - wie kann der Niedergang der Kirchen auch eine Sternstunde sein?

Gronemeyer: Ich denke, das ist ein Teil des Prozesses, den wir alle erfahren. Wir wissen, wir ahnen, dass unsere Gesellschaft aus ihrem konsumistischen Überfluss rauskatapultiert wird in eine bescheidenere Zukunft, die wir brauchen, um des Planeten und um unserer selbst willen. Und da ist die Kirche auf einem Nebengleis in einer ähnlichen Situation. Die Wohlstandszeit ist zu Ende und vielleicht bei der Kirche noch schneller und deutlicher spürbar als in unseren gesellschaftlichen Verhältnissen. Und das ist ein Augenblick des Schmerzes, des Abschieds von Gewohntem. Gleichzeitig ist es auch die Stunde der Befreiung und des Aufbruchs. Es gibt die Möglichkeit, dass sich die Sehnsucht nach mehr Innerlichkeit, nach mehr Empathie und der Zuneigung zu anderen Menschen durchsetzen kann. Insofern ist das eine Hoffnung auf eine Sternstunde.

 

Herr Jürgens, Sie sagen auch, der Untergang der Kirche böte eine Chance zum Neuanfang. Wie stellen Sie sich das vor?

Jürgens: Wir leben in einer Zeit, in der eine Epoche zu Ende geht, die mit Kaiser Konstantin begonnen hat, nämlich eine Kirche, die sehr stark auf Macht und Einfluss setzen und ganze Gesellschaften prägen konnte. Das wird nicht mehr gehen, diese Form der Kirche ist zu Ende. Deswegen spreche ich, was die Volkskirche angeht, von palliativer Pastoral. Da kann man nur mit viel Geduld und schmerzfrei die "Patientin Kirche" zum Sterben begleiten.

Wie kann man überhaupt als Christ heute angesichts der Kirchensituation noch fröhlich an das Evangelium glauben und im Gebet bleiben? Ich unterstütze das, was Herr Gronemeyer sagt. Es kann sein, dass diese Phase zu mehr Innerlichkeit führt. Sie wird dazu führen, dass die Kirche an gesellschaftlicher Relevanz komplett einbüßt. In spätestens 50 Jahren wird ein Europa ohne gesellschaftlich relevantes Christentum sein. Das heißt aber nicht, dass es nicht Christinnen und Christen an der Basis gibt, die den Glauben, das Gebet und das Handeln aus dem Glauben für sich neu entdecken. Von daher sehe ich zwar ziemlich dunkel, aber nicht schwarz. Die Sozialform der Kirche, wie sie heute ist, ist dem Untergang geweiht. Aber das heißt nicht, dass niemand mehr an Jesus glaubt. Das kann auch in kleinen Gruppen wieder von vorne beginnen. Darauf hoffe ich jedenfalls.

 

Ist die Institution Kirche noch reformfähig?

Jürgens: Ich glaube, wir müssen die Institution von der Glaubensgemeinschaft trennen. Die Glaubensgemeinschaft verselbstständigt sich. Die katholische Behörden-Kirche zeigt sich als extrem reformresistent. Wir packen die wirklich gesellschaftlich relevanten Themen nicht an. Da ist die Frauenfrage, die Frage nach Macht und Transparenz, die Zölibatsfrage. Da schleppen wir Vorstellungen aus früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden mit uns herum, wir halten wider besseres theologisches Wissen daran fest.

Niemand hat den Mut zu wirklichen Reformen, weil die Verantwortungsträger entweder angepasst und wenig kreativ sind oder Angst haben vor einer Kirchenspaltung.

Die derzeitige katholische Behörden-Kirche wird sich nicht reformieren, daran wird auch der synodale Weg nichts ändern. Der wird ergebnislos in einer römischen Sackgasse enden. Es wird darauf ankommen, ob es katholische Christinnen und Christen gibt, die ihren Glauben selbst in die Hand nehmen. Nur dann kann die Kirche Zukunft haben.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir zuerst Kirchenmitglieder waren. Wenn wir Glück hatten, haben wir dann Jesus irgendwann entdeckt, uns bekehrt. In Zukunft wird es umgekehrt sein: Die Menschen müssen sich zuerst an Jesus orientieren und in seinem Namen die Welt gestalten wollen. Und die, die das wollen, die bilden dann zusammen Kirche. Aber der derzeitige klerikale Apparat katholische Kirche kann so nicht weiter existieren.

 

Herr Gronemeyer - was meinen Sie zur Reformfähigkeit der Kirche?

Gronemeyer: In der evangelischen Kirche besteht die Gefahr, dass man sich in der Kirchenleitung so modisch wie möglich gibt. Es gibt immer eine neue Management-Theorie oder eine Kommunikationstheorie oder eine neue Werbebroschüre, mit der man sich panisch anpasst. Und das ist ein gefährlicher, ein tödlicher Irrtum. Kirche muss anders sein als das Weltläufige. Es geht um die Radikalität, so etwas wie Nachfolge zu leben. Aber so lange die Kardinäle und die Bischöfe und die Kirchenräte in allen beiden Kirchen nicht leben wie die Apostel, werden sie unglaubwürdig sein.

Es ist unübersehbar, dass es diese Kirche, so wie sie jetzt ist, mit hohen Gehältern, hohen Pensionen, in 30 Jahren nicht mehr geben wird.

Und jetzt heißt es, den Gürtel enger schnallen und dies als Möglichkeit begreifen. Darin liegt die Chance, dass Kirche Avantgarde wäre. Wir wissen doch, dass wir raus müssen aus einer konsumistischen Lebenswelt, die den Planeten zugrunde richtet. Also warum nicht entschlossen vorangehen? Die Kirche mag verschwinden. Aber das, worum es geht, die Botschaft Jesu, die Geschichte vom barmherzigen Samariter, die ist ja überhaupt nicht eingelöst. Damit könnten wir neu anfangen.

 

Herr Jürgens, sie schreiben, dass viele Menschen in ihrem Kinderglauben an Gott verhaftet bleiben. Wie können sie zum Erwachsenenglauben finden?

Jürgens: Ich glaube, dass wir aufbrechen müssen von einem magischen Kinderglauben zu einem mystischen Erwachsenenglauben. Ich denke, dass rund siebzig Prozent der Katholiken an einen Gott glauben, den es gar nicht gibt, nämlich den unverwechselbaren Gott mit den jeweiligen Machtstrukturen, der eigentlich nur das Über-Ich widerspiegelt, das kontrolliert und beschützt, verflucht und segnet. Die Menschen glauben an Gott und haben große Ängste.

Es ist eine Herausforderung für jeden Christen, eine persönliche Gottesbeziehung zu pflegen und sich von Gott herausfordern zu lassen. Zum Erwachsenenglauben gehört die Herausforderung zur Nachfolge. Das werden nicht alle machen. Aber es ist ein Weg, der unerlässlich ist. Denn Glauben ist kein Zustand, sondern ein Weg.

 

Sie sprechen beide positiv über eine Auflösung der Institution Kirche - aber was kommt dann?

Jürgens: Diese Auflösung geschieht sowieso. Die katholische Kirche hat immer weniger Personal. Wir bilden immer größere Gemeinden, in denen ein persönliches Beziehungsgeschehen kaum noch möglich ist. Wir verwalten immer mehr, statt dass wir Seelsorge von Mensch zu Mensch gestalten können. Es gibt einen Schrumpfungsprozess, den muss man nicht künstlich herbeiführen, sondern den muss man mit Liebe begleiten, weil er sowieso geschieht. Wir müssen aber schauen, wie wir die Christen sammeln, die dabeibleiben und vielleicht neu aufbrechen wollen. Aber es wäre völlig unverantwortlich, den ganzen Verein jetzt in den Boden zu stampfen.

Gronemeyer: Dieses Phänomen, dass die Kirche, so wie wir sie kennen, am Zerbröckeln ist, wird keiner bestreiten wollen. Die Frage ist, ob es jetzt panische Versuche gibt, das Ding irgendwie zu retten. Oder ob wir sagen, wir warten darauf, dass aus diesen Trümmern etwas Neues hervorbricht, das den Menschen Hoffnung und Trost gibt.

Die Kirche heute ist so überflüssig wie noch nie zuvor, weil ihr keiner mehr irgendetwas zutraut, und im gleichen Augenblick ist sie so wichtig wie noch nie. Weil die religiöse Dürftigkeit und Verarmung dieser Gesellschaft so exzessiv ist, wie sie in den letzten zweitausend Jahren nicht vorstellbar gewesen ist.

Aber diese zusammenbrechende Kathedrale eröffnet den Blick in eine neue Zukunft. Und das ist schön, dass in dieser hoffnungslosen Zeit und in dieser völlig glaubenslosen Zeit und in dieser religiös tauben Zeit etwas sichtbar werden kann, was ein ganz neues, ein ganz anderes Aufbrechen in Religiösität ermöglicht.

 

Herr Jürgens, warum geben Sie ihr Amt als Pfarrer nicht auf?

Jürgens: Ich bleibe Pfarrer, weil ich die Botschaft des Evangeliums für das Beste halte, das Gott und Welt zu bieten haben. Und dafür lohnt sich jeder Einsatz.

Dass ich in dieser Kirche den Glauben kennengelernt habe, das verdanke ich der Kirche. Das heißt nicht, dass ich unkritisch bin, aber ich bleibe der Kirche auch dankbar, dieser Kirchengemeinschaft. Ich glaube dank, mit und trotz der Kirche an Gott.

Herr Gronemeyer, und warum wenden Sie sich nicht ab von der Kirche?

Gronemeyer: Ich kenne eine Pfarrerin, zu der ich in den Gottesdienst gehe, in einer pompösen gotischen Kathedrale, die sich beim Gottesdienst verwandelt in einen Ort der Begegnung mit Jesus. Es ist nicht so, dass ich diese Kirche nicht auch lieben und vermissen würde, wenn sie verschwunden ist. Ich komme noch aus einer Situation, wo der sonntägliche Gottesdienst das Normale war, selbst in einer Großstadt wie Hamburg. Die Kirchen waren voll. Und das habe ich Stück für Stück verschwinden sehen. Jetzt sind die Kirchen sonntags leer und sie werden sich nicht wieder füllen. Dass diese Form, in der der christliche Glaube über lange Zeit existiert hat, jetzt vor unseren Augen zerbricht, ist traurig. Aber das schließt die Möglichkeit des Aufbruchs ein.

Das Gespräch ist Teil der Sonntagsblatt-Talkreihe "Kirche der Zukunft". Hier sprechen Sonntagsblatt-Chefredakteurin Rieke C. Harmsen und Sonntagsblatt-Redakteur Oliver Marquart mit den Gästen - und das Publikum kann mitdiskutieren.

 

 

Talkreihe "Kirche der Zukunft"

Stefan Jürgens 

Stefan Jürgens, geb. 1968 in Nordrhein-Westfalen, hat in Münster und Freiburg katholische Theologie studiert und wurde 1994 zum Priester geweiht. Jürgens war zunächst als Kaplan und Jugendseelsorger tätig und wurde später Geistlicher Rektor der katholische Akademie "Kardinal-von-Galen" sowie Leiter des Exerzitienhauses. Als Pfarrer im Münsterland schrieb er den Blog "Landpfarrer". Bekanntheit erlangte Jürgens außerdem als "Wort zum Sonntag"-Sprecher. 2020 erschien sein erstes Buch "Ausgeheuchelt! So geht es aufwärts mit der Kirche". 2021 folgte "Dranbleiben! Glauben trotz und mit der Kirche!". Beide Schriften erschienen im Herder Verlag. 

Reimer Gronemeyer

Reimer Gronemeyer, Jahrgang 1939, ist evangelischer Theologe und Soziologe. Als Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen liegt sein Forschungsschwerpunkt auf Entwicklungsländern, Sterbebegleitung, der Hospizbewegung sowie Demenz. Unter seinen theologischen Veröffentlichungen stellt das 2020 erschienene "Der Niedergang der Kirchen: Eine Sternstunde?" Gronemeyers Blick auf die Veränderungen in der Kirche des 21. Jahrhunderts dar. Im kontinuierlichen Schwund der Mitglieder erkennt der Autor eine Chance: Die Reduktion auf einen christlichen Kernbestand könnte eine radikale Rückbesinnung auf die "eigentlichen" Werte des Christentums zur Folge haben.