Lockdown mit Lockout: Acht Wochen lang waren im Frühling viele Altenheime von der Außenwelt abgeriegelt, um Corona-Infektionen bei Bewohnern und Pflegekräften zu verhindern. Die Logik schien klar: Alte Menschen, vielfach vorerkrankt, vulnerable Hochrisikogruppe – unbedingt schützen!

Doch was ist das Leben ohne Begegnung und ohne Berührung? Den nasskalten Herbst vor Augen mehren sich die Stimmen, die einen anderen Umgang mit Pflegeeinrichtungen fordern, sollten die Infektionszahlen wieder steigen. Wie sehen das die Betroffenen selbst? Ein Vormittag im Pflegeheim Planegg der Inneren Mission München.

Rotationsprinzip bei Veranstaltungen: Heimlei­tung Astrid Ühlein versucht, trotz Schutzmaßnahmen »Bewegung und Leben« zu ermöglichen.

In Astrid Ühleins Büro ist es kalt. Das Fenster steht sperrangelweit offen, der Herbst trägt frische, klare Luft herein. Draußen stehen schon die Biergarten-Garnituren für das Mitarbeiter-Grillfest am Nachmittag. Der Soundcheck weht Rap-Fetzen herüber.

"Im Sommer haben wir alles draußen gemacht: Sitzgymnastik, Gedächtnistraining, Konzerte, Oktoberfest",

erzählt die Leiterin des Evangelischen Alten- und Pflegeheims Planegg.

Das war ein Glück, doch eins mit trüben Flecken. Normalerweise sind zu Festen im Planegger Heim alle eingeladen – derzeit geht es nur im Rotationsprinzip. Normalerweise wird bei den Feiern fröhlich geschunkelt – derzeit geht es nur mit Abstand. Normalerweise besucht den Gottesdienst, wer mag – derzeit geht es nur mit persönlicher Einladung. "Und Weihnachten werden wir im kleinen Kreis in den einzelnen Wohnbereichen feiern – ohne Angehörige", sagt Astrid Ühlein und schweigt einen Moment. Man merkt: Anders wäre es ihr lieber.

Und doch ist die Heimleiterin froh über alles, was möglich ist. Denn Ühlein hat auch das erlebt: Corona-Ausbruch im Haus, ein Viertel der Mitarbeitenden und Bewohner infiziert. 14 der alten Menschen sind am oder mit dem Virus gestorben.

"Das ging zum Teil unglaublich schnell und hat uns alle sehr belastet", sagt sie.

Das Krisenmanagement war für sie Stress pur: der Schutzkleidung beim Katastrophenschutz nachjagen, Personalersatz beim bayerischen Pflegepool anfordern, Gespräche mit Behörden, Krisenstäben, dem Tropeninstitut, dem Pandemiearzt, besorgten und verzweifelten Angehörigen – "ich war die ersten Tage nur am Telefon."

Und dennoch sagt Astrid Ühlein im Rückblick, "dass wir es durch die enorme Leistung aller Mitarbeitenden, die da waren, relativ gut geschafft haben". Das gebe ihr ein Gefühl der Sicherheit, falls es noch einmal zu einer Infektionswelle komme.
 

»Die Menschen waren nicht mehr der Gemeinschaft zugehörig«: Die Pflegekräfte Lars-Joachim Morcher und Michaela Minzapost fordern, künftig soziale Isolation von Heimbewohnern zu vermeiden.

Ähnlich empfindet es Lars-Joachim Morcher: "Wir wissen jetzt, was auf uns zukommt", sagt der 24-jährige Altenpfleger. Morcher und seine Kollegin Michaela Minzapost gehörten zu jenen Mitarbeitern, die die Corona-Krise im Planegger Heim täglich hautnah miterlebt haben.

"Wir haben zwei Monate lang in Zwölf-Stunden-Schichten gearbeitet", sagt Minzapost. Viele der Kollegen krank, Ersatzleute, die eingewiesen werden mussten, keine Angehörigen mehr, die die Pflegekräfte sonst entlasten, dazu die eigene Unsicherheit und die der Bewohner – "wir mussten wahnsinnig viel abfedern", sagt die stellvertretende Wohnbereichsleiterin.

Als besonderen Stressfaktor hat Minzapost den Mangel an Schutzausrüstung empfunden.

"Dass wir zum Teil keine Masken hatten, in Deutschland! Das geht gar nicht!",

ruft die 37-Jährige. Die Empörung darüber, als Mitarbeiter fahrlässig einem solchen Risiko ausgesetzt zu werden, ist frisch wie am ersten Tag. "Da hilft auch keine Extra-Zahlung", sagt die Altenpflegefachkraft, die nach zwei Monaten Dauerstress für drei Wochen mit einer halbseitigen Gesichtslähmung flachlag.

Ihr junger Kollege hört aufmerksam zu und nickt hin und wieder.

"Es war schwieriger, den Bewohnern Nähe zu geben",

erinnert sich Morcher an den Spagat zwischen Infektionsschutz und guter Pflege. Wer da hinter der Maske steckt, warum plötzlich kein Angehöriger mehr kommt, wieso man nicht mehr aus dem Zimmer darf – das sei manchen schwer zu vermitteln gewesen. Erst recht nicht jenen Bewohnern mit Demenz.

Die Isolierung der Menschen sei schlimm gewesen, sagt der Altenpfleger, der seit fünf Jahren in Planegg arbeitet. Es gab keine Veranstaltungen und keinen Besuch, jeder musste auf seinem Zimmer essen.

"Die Menschen waren nicht mehr der Gemeinschaft zugehörig – das hat mir wehgetan",

sagt er. Zumal die Folgen der acht einsamen Wochen noch heute zu spüren seien: Verwirrtheit, depressive Stimmungen, körperlicher Abbau und Verlust von Sprechfähigkeit – manche Bewohner hätten das nicht mehr wettmachen können.

Eine positive Erkenntnis aus der Krise bleibt für den Pfleger. "Wir haben alle zusammengehalten", sagt Lars-Joachim Morcher, "wir konnten uns aufeinander verlassen und haben Lösungen gefunden, um trotz allem gute Pflege zu ermöglichen." Diese Erfahrung eines starken Teams war für ihn ungeheuer wertvoll.

"Dass man sich »einfach mal in den Arm nehmen kann", hat die 92-jährige Rysoletta Doelfs während des achtwöchigen Besuchsverbots im Pflegeheim besonders vermisst.

Auf ihren Rollator gestützt kommt Rysoletta Doelfs festen Schritts in den Speisesaal. Seit knapp drei Jahren lebt die 92-Jährige im Pflegeheim Planegg. Zwei Kinder, sechs Enkel, zehn Urenkel, das elfte unterwegs –

"ich bin ein Familienmensch",

sagt die gepflegte alte Dame und strahlt. Wenn Doelfs von den Corona-Wochen erzählt, stehen Bescheidenheit und Dankbarkeit im Vordergrund.

Dank ihrer Erdgeschoss-Wohnung mit Terrasse sei das Gefühl des Eingesperrtseins nicht so stark gewesen. Ihre Kinder hätten regelmäßig für sie eingekauft, man habe sich zumindest durchs Fenster unterhalten können, niemand in ihrer großen Familie sei erkrankt – "kann man da nicht dankbar sein?", fragt Rysoletta Doelfs mit offenem Blick aus hellblauen Augen.

Aber da sind auch die anderen Momente, wenn sie an die Krisenzeit im Heim denkt. Ihre direkte Wohnungsnachbarin sei an Covid-19 gestorben, "das hat mich sehr belastet".

Das "Abgesperrtsein" hat sie trotz Terrasse "schon gespürt".

Und trotz aller Anrufe und Fensterbesuche ihrer Kinder hat es ihr gefehlt, "dass man sich einfach mal in den Arm nehmen kann".

Dem Winter sieht Rysoletta Doelfs mit Sorge entgegen. "Man wird ein bissl mürber", sagt sie und dreht ihre Alltagsmaske in den Händen.

"Ich habe Angst, dass ich noch so einen Winter nicht mehr packe."

Vielleicht ist das ein gutes Bild für die Corona-Monate von März bis Mai: Ein langer Winter, in dem alles Leben eingefroren schien.
 

Ulrike Bauer trägt selbst alle Schutzmaßnahmen mit. »Aber mit alten Menschen muss man mehr ermöglichen«, sagt sie.

Ulrike Bauer kommt gerade vom evangelischen Gottesdienst, den ihre Mutter gern besucht. Sie hat einen Zettel mitgebracht, auf dem die Dramatik der Corona-Wochen in dürren Daten festgehalten ist. Schließung des Hauses am 14. März, am 9. Mai der erste Besuchstag hinter Plexiglas, am 12. Juni das erste Treffen im Garten, am 30. Juni die Aufhebung des Besuchsstopps.

Seit zwölf Jahren wohnt Bauers Mutter Mathilde Schöneich im Evangelischen Pflegeheim Planegg. Im Januar hat sie ihren 100. Geburtstag gefeiert, mit einer kleinen Party in der Kapelle. Ulrike Bauer zeigt Fotos davon: Man sieht die Jubilarin, schön frisiert und festlich gekleidet, sie steht und nimmt Glückwünsche entgegen.

"Da war sie noch total fit",

sagt ihre Tochter mit etwas Wehmut in der Stimme.

Jetzt sitzt Mathilde Schöneich meistens im Rollstuhl. Mitte Mai ist sie in ihrem Zimmer gestürzt, "ab da ging es steil bergab", sagt Bauer. Die Beine, die Augen, aber auch das Interesse an der Welt draußen –  alles habe so plötzlich nachgelassen.

Ulrike Bauer macht niemandem einen Vorwurf. Dennoch denkt sie, dass die Einsamkeit der Corona-Wochen den körperlichen Abbau der Mutter beschleunigt hat. Davor sei ihre Mutter oft mit dem Rollator auf dem Gang unterwegs gewesen oder habe sich mit der Nachbarin getroffen.

Wie soll man Lebenslust bewahren, wenn man wochenlang allein im Zimmer sitzt?

Doch auch die Tochter, die vor Corona beinahe täglich zu Besuch kam, litt unter dem Ausgesperrtsein: "Es war schlimm, dass ich nicht reinkonnte, um zu helfen." Wenn sie vom ersten Besuch hinter Plexiglas berichtet, schießen der 66-Jährigen Tränen in die Augen.

Ulrike Bauer ist zerrissen zwischen Herz und Verstand: "Das hat mir schon was gegeben, sich wenigstens zu sehen.

Aber dass man sich nicht umarmen kann, war furchtbar",

erinnert sie sich. Sie sei persönlich zu allen Schutzmaßnahmen bereit. "Aber mit den alten Menschen, da muss man mehr ermöglichen", sagt sie.

Wie soll es nun weitergehen mit den Altenheimen, wenn der Winter kommt und die Infektionszahlen steigen? "Wir sind alle angespannt", sagt Astrid Ühlein. Schon jetzt gebe es wieder Fälle mit verdächtigen Symptomen. Halsweh, Husten, Fieber gehören halt dazu im Herbst. "Solche Bewohner isolieren wir vorsorglich und tragen bei ihnen wieder FFP2-Masken", sagt die Heimleiterin.

Nach zwei Corona-Infektionen im Team folgte sofort die Reihentestung aller Kontaktpersonen, zum Glück ohne Befund.

"Wir sind ständig auf Hab-acht",

sagt Ühlein.

Bei der Gratwanderung zwischen Infektionsschutz und Schutz der Lebensqualität ist Ühleins Richtung klar: "Lieber klar reglementierte Besuche als einen kompletten Besuchsstopp." Ob ihre Bewohner eine zweite soziale Isolation verkraften würden, weiß die Heimleiterin nicht. Schon die Besuchs-Ersatzlösungen mit Plexiglas-Trennwänden und digitaler Kommunikation seien zu wenig gewesen. "Denn das ist deutlich geworden:

Wir können den direkten Kontakt zu Angehörigen und guten Freunden nicht ersetzen,

auch wenn wir noch so viel anbieten", ist Astrid Ühlein überzeugt.

Die Haltung zu einer neuen Corona-Welle ist im Pflegeheim Planegg einheitlich. "Die Schutzmaßnahmen haben funktioniert", sagt Altenpfleger Lars-Joachim Morcher: "Wenn Corona wiederkommt, darf man das Haus nicht mehr ganz dicht machen." Ulrike Bauer formuliert ihre Sorge mit Inbrunst: "Ich hoffe, hoffe, hoffe, dass es so nicht wiederkommt." Das wäre auch das Schreckensszenario für Rysoletta Doelfs:

"Ich hab Angst, dass sie den Laden wieder zusperren."

Der Auftrag der Planegger an Politik und Behörden ist, jenseits der Forderung nach ausreichend Schutzkleidung und Personal, klar: Der Schutz vor dem Virus rechtfertigt nicht jede Restriktion – auch nicht bei Hochrisikogruppen. Denn ohne Gespräche, Umarmungen, gemeinsames Lachen und Weinen, ohne Abwechslung und Lebenslust ist das Leben manchmal nur noch das: ein langer, langer Winter.