In Umfragen sagen 28 Prozent der Deutschen, sie lebten in einer Scheindemokratie. Das ist eine der Zahlen, die immer wieder fällt bei der Tagung "Zukunft der Demokratie" im Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing. Die andere: Auf der Welt sind derzeit von 137 untersuchten Ländern erstmals die Autokratien in der Mehrheit. Nur 67 Ländern hätten eine Demokratie, 70 gelten als autokratisch.

Davon spricht auch der deutsche Bundeskanzler in Tutzing. Aber er bleibt Optimist: Es sei ein humanitäres Bedürfnis, in einer Demokratie leben zu wollen, ist Olaf Scholz überzeugt. In seiner Rede mit dem Titel "Demokratie und Zeitenwende - neue Herausforderungen, neue Perspektiven" sagt er:

"Die Zukunft unserer Demokratie hängt von der Zukunft der Demokratien in der Welt ab."

"Jede Demokratie ist ein Unikat und nicht jede Demokratie funktioniert reibungslos", räumt der Bundeskanzler ein, aber Länder, die sich auf die Grundlage der Demokratie stellten, eröffneten Spielräume für Oppositionelle, die auf Lücken zwischen Anspruch und Wirklichkeit verweisen könnten. In Demokratien könnten die Machthaber nicht auf Dauer über die Wünsche der Menschen hinweggehen, zeigt sich Scholz zuversichtlich.

Die Demokratien dieser Welt seien gefordert, erklärt dann am Samstag bei der Tagung auch die Präsidentin des Deutschen Bundestags, Bärbel Bas (SPD).

Um die Probleme des Planeten in den Griff zu bekommen, brauche es "langfristige Konzepte, schmerzhafte Anpassungen, grenzüberschreitenden Wandel".

Dafür müssten die Menschen von einer Politik überzeugt werden, die über die aktuelle Krise hinausdenke und ihnen deutlich mache, dass sie Zumutungen auf sich nehmen müssten. "Daran entscheidet sich, ob unsere Zivilisation bestehen kann. Um nicht weniger geht es", erklärt Bas.

Evangelische Akademie Tutzing Bärbel Bas und Udo Hahn
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) und der Leiter der Evangelischen Akademie Tutzing, Udo Hahn, beim Politischen Club im Juni 2022

Sie macht sich für Bürgerräte stark. Sie könnten helfen, "strukturelle Verkrustungen des politischen Betriebs aufzubrechen". Solche Bürgerräte sollten der Demokratie zu besseren Entscheidungen verhelfen, sagt die Bundestagspräsidentin. "Indem sie auch jene Menschen einbeziehen, die sonst wenig Berührungspunkte mit dem politischen System haben", könnten sie parlamentarische Beratungen auf eine breite Grundlage stellen. Bas räumt ein, dass sich eher besser gebildete und einkommensstärkere oder gut integrierte Bürgerinnen und Bürger an solchen Räten beteiligen würden. Daher müssten Wege gefunden werden, mehr Menschen die Teilhabe zu ermöglichen.

Ein Stichwort für den Berliner Professor Michael Zürn, der einerseits kritisiert, dass die Parlamente Bildungsparlamente geworden seien, die ein Drittel der Bevölkerung nicht mehr repräsentierten. Andererseits - und dieses Problem sei viel größer - hätten die Parlamente ihre Entscheidungsmacht an Zentralbanken, Verfassungsgerichte, Experten oder internationale Institutionen verloren. Das führe dazu, dass die Stimme "des kleinen Bürgers oder der kleinen Bürgerin in der kleinen Wahlkabine" an Bedeutung verloren habe. Und der Wähler selbst habe den Eindruck, nicht mehr gehört zu werden.

Schon vorhandene Beteiligungsmöglichkeiten hätten Bürgerinnen und Bürger bisher leider oft nicht genutzt.

Das erklärt der Politikwissenschaftler Claus Leggewie (Gießen) und ruft zu "mehr Courage für die Demokratie" auf. Sein Konzept der Beteiligung heißt "Zukunftsräte". In solche moderierte und auch finanziell ausgestattete Gremien, die sich beispielsweise über Atommüllendlager oder Stromtrassen austauschen sollen, sollten durch Losverfahren junge Menschen, sozial schwache Menschen oder Menschen mit Migrationserfahrung hinzugezogen werden.

Bürgerräte oder Zukunftsräte müssten darüber debattieren, was das Gemeinwohl ist., erklärt die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan (Berlin), "Gemeinwohl fällt nicht vom Himmel". Ihr Konzept der Bürgerbeteiligung sieht bei umstrittenen Projekten vor, Vertreterinnen und Vertreter der Kommunalverwaltung ebenso einzubeziehen wie Wirtschaftsvertreter, Bürgerräte und gewählte Gemeinderäte. Bürgerräte sind keine Opposition zu den gewählten Parlamentariern sind sich Leggewie und Schwan einig. "Letztlich zählt die Macht des Arguments", sagt Schwan.