Es war eine Art realpolitisches Erwachen: der Überfall Putin-Russlands auf die Ukraine, Raketen und Granaten auf Kiew, Mariupol, Charkiw und Odessa, Hinweise auf Kriegsverbrechen, getötete Zivilisten, bombardierte Krankenhäuser. So sympathisch und wichtig Demonstrationen, Kerzen und Friedensgebete auch sind: Nichts davon lässt sich weghoffen und wegbeten.
Ich war die vergangenen Wochen in Benin, Westafrika. Als wir losfuhren, wurde in einem gespannten Frieden noch verhandelt. Als wir zurückkamen, war Krieg. In Westafrika wirken Russland und die Ukraine weit weg.
Aber es wird sehr genau wahrgenommen, dass hier Europäer auf Europäer, Christen auf Christen schießen. Dafür ist China sehr präsent in Benin wie überhaupt in Afrika. Als Investor, Rohstoffkäufer, Einflussnehmer. Und Putin wird hier von vielen Menschen als einer wahrgenommen, der dem verhassten und arroganten Westen entgegentritt.
Arroganz führt im Westen zu Fehleinschätzungen
Putins Krieg hat bei uns einen Schock ausgelöst. Er hat mit dem plötzlichen Offenbarwerden von fatalen Fehleinschätzungen zu tun. Arroganz macht blind und führt zu Fehleinschätzungen. Eine westliche Arroganz ist es, nicht wahrzunehmen, wie sehr unsere bunten, offenen, mit ihren Kulturkämpfen mitunter unverständlichen Gesellschaften von vielen Menschen auf der Welt als zersetzende Bedrohung wahrgenommen werden. In dieser Perspektive sind wir nicht das Licht, sondern die Finsternis.
"Sich energiepolitisch von einem Land abhängig zu machen, das sich schon länger als lupenreine Diktatur präsentiert, hat sich als schwerer Fehler erwiesen."
Bei uns findet das Erwachen eher an den Zapfsäulen der Tankstellen statt. Sich energiepolitisch von einem Land abhängig zu machen, das sich schon länger als lupenreine Diktatur präsentiert, hat sich ebenfalls als schwerer Fehler erwiesen.
Kulturkämpfe und realpolitisches Erwachen
In Sachen Russland-Realismus kann man den Grünen wenig vorwerfen. Dennoch holen manche von ihnen nun alte Vorkriegs-Kulturkämpfe hinter dem Ofen hervor, zum Beispiel die Forderung nach einem Tempolimit auf den deutschen Autobahnen. Nur diesmal mit dem etwas erbärmlichen Argument, dass man es durch eingesparten Sprit Putin jetzt aber so richtig zeigen könne.
"Schockartig hat sich mit Putins Angriffskrieg die Erkenntnis breitgemacht, dass die Staaten, die für Rechtstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie stehen, wehrhafter werden müssen."
Schockartig hat sich mit Putins Angriffskrieg hierzulande die Erkenntnis breitgemacht, dass unser Land, überhaupt die Staaten, die für Rechtstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie stehen, wehrhafter werden müssen. Verteidigungsbereitschaft hat mehrere Seiten. Eine ist die Frage, wie gut die Bundeswehr oder eine künftige europäische Armee ausgestattet sind, eine andere ist ökonomische und energiepolitische Resilienz.
Aber es gibt auch eine immaterielle, innere Seite. Es ist die Bereitschaft, Recht und Freiheit zu verteidigen. Sie setzt Selbstbewusstsein und Klarheit, aber vor allem einen realistischen Blick auf die Welt voraus.