"Wohnungsnot ist das soziale Problem Nummer 1."

Herr Dexheimer, wie akut erleben Sie Wohnungsnot in Bayern?

Andreas Dexheimer: Wir sind als Diakonie Rosenheim im gesamten südbayerischen Raum aktiv und Wohnungsnot ist das zentrale Problem in dieser Region. Es überlagert alles andere, es ist das soziale Problem Nummer 1.

Wo begegnet Ihnen das Problem in Ihrem Alltag?

Wir erleben Wohnungsnot als Diakonie an zwei Stellen. Zum einen gibt es wahnsinnig viele Menschen, die wir in irgendeiner Art betreuen, die nicht mehr in der Lage sind, adäquaten Wohnraum zu finden. Die zum Teil Jahrzehnte auf Listen von Sozialwohnungen stehen, die, obwohl sie höchsten Bedarf haben, über Jahre hinweg keinen Zugang zu Sozialwohnungen haben, die verzweifelt in desolaten Wohnsituationen leben. Das ist sozusagen die Seite "Klientel".

Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?

Sozialer Wohnungsbau soll sicherstellen, dass jeder Mensch angemessenen Wohnraum findet und es, wenn das eigene Einkommen nicht mehr ausreicht, geförderte Wohnungen gibt. Das ist die Idee dahinter. Ich kenne ein Pärchen, das in einer kleinen Zweizimmerwohnung wohnt. Er ist Handwerker, sie arbeitet in der Verwaltung, gemeinsam haben sie ein Kind. Ihr Einkommen ist gut, durchschnittlich.  Die Eltern wünschen sich ein weiteres Kind, aber die Wohnung ist so eng, dass dafür einfach kein Raum ist. Sie sind in Not, haben keine Chance auf ein zweites Kind, weil sie keine größere Wohnung bekommen. Klar, diese Familie ist nicht obdachlos, aber sie hat viel zu wenig Platz und daran scheitert ihre Familienplanung. Menschen wie diese leiden da richtig darunter. Das große soziale Problem besteht in der Mittelschicht.

Sie sprachen von zwei Stellen, an denen Sie als Diakonie Wohnungsnot erleben.

Genau, wir haben das gleiche Problem auch auf Seiten unserer Mitarbeitenden. Alle in den unteren und mittleren Einkommensbereichen – und es ist eben gerade auch die Mitte und nicht nur der untere Teil – haben Probleme bei der Wohnungsfindung. Typischerweise sind das Kinderpflegerinnen, Erzieherinnen, Altenpfleger, Sozialarbeiter. Wir haben Fachkräftemangel und schaffen es nicht mehr, Menschen von außerhalb in die Metropolregionen zu kriegen, weil diese schlicht kein Wohnraum finden. Das ist nochmal eine zweite, ganz große Problematik für uns.

"Es ist eine Katastrophe für Menschen, die keinen Wohnraum finden, und für Arbeitgeber, die aufgrund des fehlenden Wohnraums keine Mitarbeiter finden."

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder versprach 2018 10.000 neue Wohnungen für Bayern – nach jetzigem Stand werden es bis Ende 2024 wohl lediglich knapp 700. Wie dramatisch ist das?

Das ist einfach eine Katastrophe. Es ist eine Katastrophe für Menschen, die keinen Wohnraum finden und es ist eine Katastrophe für Arbeitgeber, die aufgrund des fehlenden Wohnraums keine Mitarbeiter finden.

Und es ist ja nicht nur, dass Söders Versprechen völlig hohl läuft. Es ist generell das Thema sozialer Wohnbau und mehr Wohnraum schaffen. Es passiert an keiner Stelle strukturell irgendetwas Neues oder etwas, das wirklich signifikant mehr Wohnraum bringt. Man muss auch dazu sagen: 10.000 Wohnungen wären auch immer noch viel, viel, viel zu wenig, um das Problem zu lösen. Wir brauchen massiv mehr. Es wäre also eh schon nur ein Tropfen auf dem heißen Stein und der ist dann noch dazu ein hohles Wahlkampfversprechen.

Sind Sie enttäuscht von der Politik?

Es fehlt der politische Wille, wirklich das Problem zu priorisieren und zu sagen: Wir müssen mit Nachdruck, schnell, viel Wohnraum schaffen. Und es liegt auch an den extrem langen Verwaltungsverfahren. Das ist definitiv eine Frage der politischen Prioritätensetzung. Da ist momentan für mich keinerlei Hoffnungszeichen erkennbar. Und es ist auch nicht an irgendeiner Stelle erkennbar, dass systematisch signifikant mehr Wohnraum im unteren oder mittleren Preissegment gebaut wird. Man redet darüber, mehr ist es nicht.

"Der Markt versagt hier seit vielen Jahren."

Wieso bekommt dieses Thema keine Priorität?

Sozialer Wohnungsbau ist extrem teuer, es sind langfristige Investitionen und es ist eine Abkehr von der konservativen bayerischen Politik. Der Markt versagt hier seit vielen Jahren und es gibt erst jetzt ein vorsichtiges Umsteuern in eine soziale Verantwortung der Politik für die Schaffung von Wohnraum.

Was erwarten Sie jetzt von der Politik?

Das zur Verfügung Stellen von Fläche, Beschleunigung der Verfahren und signifikanter finanzieller Zuschuss. Es bräuchte Sonderregeln und eine großzügige Auslegung des Baurechts für sozialen Wohnungsbau und die Ermöglichung von kostengünstigem Bauen. Das heißt, ich muss höher gehen können, ich muss weniger Abstandsflächen und Stellplätze haben dürfen, etc. Das kann Politik gestalten.

Gibt es ein Beispiel, wo all das positiv zusammengespielt und funktioniert hat?

Gut läuft es mit mittelgroßen Kommunen, die sagen, sie gehen das Problem an. Wir als Diakonie haben zum Beispiel ein soziales Wohnungsbauprojekt im bayerischen Kirchseeon realisiert. Hier war die Gemeinde mit im Boot und hat das Grundstück relativ kostengünstig zur Verfügung gestellt, woraufhin wir es bebaut und anschließend für sozialen Wohnungsbau zur Verfügung gestellt haben. Das ist ein Beispiel, wo ich sage: So sollte es sein. Aber es passiert halt einmal und nicht in der erforderlichen Masse. 

Zur Person Andreas Dexheimer

Dr. Andreas Dexheimer arbeitet seit 1997 für die Diakonie Rosenheim und ist seit Januar 2021 Vorstand und Sprecher der Geschäftsleitung. Er studierte Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Politikwissenschaft und wurde von der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften an der "Friedrich-Schiller-Universität" Jena promoviert. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit, Sozialarbeitsforschung, Wirkungsorientierung, Kinder- und Jugendhilfe sowie Eingliederungshilfe. Er ist außerdem Leiter des Projekts "Wohnraum für Alle" der Diakonie Rosenheim.

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden