Der viel zitierte Satz vom "ewigen Rätsel", als das sich Ludwig II. von Bayern selbst angesehen hat, gilt auch noch 135 Jahre nach dem Tod des "Märchenkönigs" am 13. Juni 1886. Jedoch zeigt sich bei näherem Hinsehen durch eine jugendlichere Brille – in Sachen Religionsfreiheit und ökologischem Bewusstsein war der Monarch durchaus klarer und fortschrittlicher, als manch Mensch der Gegenwart.

Ludwig II. war aus heutiger Sicht modern

Ludwig II. und Schloss Neuschwanstein sind seit 150 Jahren bayerischer Kulturschatz, nationaler Tourismusmagnet und Stofflieferant für Legenden. Sind die Geschichten rund um den 1886 unter bis heute ungeklärten Umständen verstorbenen Monarch nicht längst auserzählt? Was hat der berühmteste Spross des Wittelsbacher Adelsgeschlechts und die florierende Ferienregion Füssen rund um seinen Wirkungskreis im Allgäu gerade der jungen Generation zu bieten? Wie sich bei einem Besuch zeigt, ist der "Kini" anno 2021 modern wie nie.

Man muss sie mal gesehen haben – die beiden "Königsschlösser" Hohenschwangau und Neuschwanstein liegen inmitten einer malerischen Bergkulisse nur wenige hundert Meter voneinander entfernt. Eineinhalb Millionen Gäste pro Jahr aus aller Welt wandeln hier in gewöhnlichen, pandemiefreien Zeiten auf den Spuren Ludwigs II. und werden zu eng getakteten Zeiten durch die Räume geführt. Der Tourismus startete hier nur wenige Wochen nach dem Tod Ludwigs und ist seither eine Erfolgsgeschichten für die ganze Region und die Gemeinden Füssen und Schwangau, in denen sich in den folgenden Jahren eine Heerschar an Gastronomen, Hoteliers und Dienstleister ansiedelte, um den Besucherströmen Herr zu werden und gute Geschäfte zu machen.

Schloss Neuschwanstein
Schloss Neuschwanstein in malerischer Bergkulisse der Alpen.

Nicht immer ein Segen für die Einheimischen, die ihre Heimat mit den Urlaubern teilen müssen. Ein Zustand, der den Kommunen einiges an Fingerspitzengefühl abverlangt – auch, weil die "heile Welt" der Region mit ihrer weitgehend intakten Natur, in die sich Menschen aus nah und fern immer wieder gerne zeitweise flüchten, geschützt werden muss, um weitgehend so zu bleiben.

In Füssen ist man sich dieser Verantwortung bewusst und hat bereits Anfang 2020 mit anderen Partnern das "Bündnis klimaneutrales Allgäu 2030" gegründet. Mit Maßnahmen wie Reduktion von CO2-Emissionen oder dem verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien und der Förderung entsprechender regionaler Projekte will man bis spätestens 2030 "klimaneutral arbeiten", wie Stefan Fredlmeier, Geschäftsführer von Füssen Tourismus und Marketing, erklärt. Allein in seiner Institution mit rund 40 Beschäftigten habe man rund 250 Einzelmaßnahmen formuliert, vom umweltfreundlichen Toilettenpapier in öffentlichen Räumen bis hin zur Heizung der Büros, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Das Beste: "Oft muss man dafür keine großen Anstrengungen unternehmen, sondern einfach an Entscheidungskurven einen anderen Abzweig nehmen", erklärt Fredlmeier.

Einsatz für den Erhalt der Umwelt

Das hätte Ludwig II. als unfreiwilligen Initiator des Allgäu-Tourismus für gut empfunden. 2016 belegte die Vorreiterrolle des Königs in Sachen Naturschutz Hubert Endhardt, Vorsitzender des Fördervereins Nationalpark Ammergebirge, in einem regionalen Zeitungsbeitrag mit seiner Quellenauswertung unter anderem der 1995 in München publizierten Briefe an seine Erzieherin Sybilla Freifrau von Leonrod. Demnach schützte Ludwig "Gottes freie, heilige Natur" konkret vor gedankenloser oder mutwilliger Zerstörung und hemmungsloser Ausplünderung. So habe er nach seiner Thronbesteigung am 10. März 1864 in seinem Herrschaftsgebiet nur die Entfernung morscher Bäume erlaubt, aber Nachpflanzungen gefordert, als beispielsweise am Eingang zum Englischen Garten in München eine Baumgruppe entfernt werden sollte. Am 10. Mai 1869 genehmigte er eine Baumaßnahme in der Schießhausstraße in Bamberg, der Alleebäume zum Opfer fielen, nur "unter der Bedingung der Nachpflanzung von Kastanienbäumen". Die von einer Interessengemeinschaft in Bamberg beabsichtigte Entfernung einer Hainallee ließ er durch das Innenministerium ablehnen.

Forggensee
Blick auf den Forggensee, auch Speicher Roßhaupten, ist ein vom Lech durchflossener Stausee in der Nähe von Füssen im Königswinkel, von Neuschwanstein aus. Ludwig II. liebte die Natur rund um sein Schloss.

Um die Zerstörung der Landschaft zu verhindern, kaufte Ludwig die Insel Herrenwörth im Chiemsee, als ein Stuttgarter Holzhändlerkonsortium 1873 damit begann, den Hochwald auf der von ihnen erst 1870/71 erworbenen Insel abzuholzen. Endhardt beschreibt auch den Erwerb eines Naherholungsgebietes mit sieben Quellen bei Starnberg, das ein Schweizer kaufen und sperren lassen wollte.

Ludwig II. sprach sich 1878 gegen eine Fernbahn von Kempten über den Fernpass ins Inntal aus und sagte:

"Man soll mir die idyllische Einsamkeit und die romantische Natur, deren Schönheit im Winter noch ungleich größer ist als im Sommer, nicht durch Eisenbahnen und Fabriken stören. Auch für zahlreiche andere Menschen, als ich einer bin, wird die Zeit kommen, in der sie sich nach einem Lande sehnen und zu einem Fleck Erde flüchten, wo die moderne Kultur, Technik, Habgier und Hetze noch friedliche Stätte weit vom Lärm, Gewühl, Rauch und Staub der Städte übrig gelassen hat."

Der "grüne" Ludwig

Historiker Magnus Peresson geht noch einen Schritt weiter: "Ludwig II. war der erste Grüne", erklärt der Vorsitzende des Historischen Vereins Alt-Füssen. Wie der ehemalige Touristenführer und spätere Architekt im TV-Film "Geheimnisvolles Schloss" erzählt, habe bereits sein Urgroßvater als Arbeiter beim Bau von Neuschwanstein mitgewirkt. Vom Großvater wisse er, dass dieser als Kind seinem Vater wiederum regelmäßig eine Brotzeit vorbei brachte, in der Hoffnung, einen Blick auf den König zu erhaschen.

Wie Peresson in zahlreichen Studien herausfand, habe sich der Regent regelmäßig für landschaftsschonendes Bauen eingesetzt. Das hat bereits Anton Memminger in seiner 1918 im Würzburger Verlag "Gebrüder Memminger" erschienen Biografie "Der Bayernkönig Ludwig II."  in einer Episode über den Bau einer Fernbahn durch bayerisches Gebiet beschrieben. Aus dem Jahr 1878 sind demnach folgende Zitate des Königs überliefert: "Ich halte dafür, dass das Glück der Völker nicht in der Menge der Eisenbahnen liegt. Auch nicht die Zukunft Bayerns und Tirols. Man soll mir die idyllische Einsamkeit und die romantische Natur, deren malerische Schönheit im Winter noch ungleich größer ist als im Sommer, nicht durch Eisenbahnen und Fabriken stören. Auch für zahllose andere Menschen, als ich einer bin, wird eine Zeit kommen, in der sie sich nach einem Lande sehen und zu einem Fleck Erde flüchten, wo die moderne Kultur, Technik, Habgier und Hetze noch eine friedliche Stätte weit von Lärm, Gewühl, Rauch und Staub der Städte übrig gelassen hat."

Natursehnsucht und ökologisches Bewusstsein

Der spätere König von Bayern habe bereits als Kind mit seiner Mutter, Marie von Preußen, nahezu sämtliche Berge der Alpen bestiegen, so Peresson gegenüber dem Sonntagsblatt. So habe er schon früh ein ökologisches Bewusstsein neben der reinen Natursehnsucht entwickelt. Im Walderlebniszentrum Füssen-Ziegelwies können sich Jung und Alt beim Laufen über die Planken des bis zu 21 Meter hohen Baumkronenwegs ein bisschen in den "Kini" hinein versetzen und anschließend auf dem Bergwald- oder dem Aupfad Wissenswertes über den Lebensraum Wald und der Wasserwelt des hier vorbei fließenden Lechs kennen lernen. Ludwig II. hätte das sicher gefallen. Er wäre also ganz auf der Höhe der Zeit ein politisches Vorbild für die junge "Fridays"-Generation, dieser Ludwig, der oft wegen seiner träumerischen Luftschlösser, die ja teils in Stein gemeißelt wurden, belächelt wird.

Schlosskapelle Hohenschwangau
Die Schlosskapelle Hohenschwangau nutzte die Königsfamilie auch für ihre Andachten.

Nach Peresson wüssten die Wenigsten, welch interreligiös denkender König Ludwig II. eigentlich gewesen sei. Seine Beziehung zur Kirche hatte allerdings eine ganz eigene Prägung: Wie der ehemalige Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns Hermann Rumschöttel 2011 in einem Interview feststellte, habe das Gefühlleben des Wittelsbachers in einer Welt zwischen Traum und Wirklichkeit, Natur und Kunst, Regierungspflicht und Künstlerfreiheit, aber auch zweifelnder Philosophie und tiefer Gläubigkeit bewegt, geprägt von einer anti-ultramontanen Kirchendistanz. Kurz gesagt: Als Kind seiner Zeit und seiner Erziehung verstand sich der König als Verkünder des Lichtes Gottes und dessen Tugendidealen, allerdings unter staatlicher Hoheit. Dennoch spendete er beispielsweise den Oberammergauer Passionsspielen eine Passionsgruppe und ließ in die Statuten des Wittelsbacher St. Georg-Ordens die "Ausübung der Werke der Barmherzigkeit" aufnehmen.

Walderlebniszentrum Füssen-Ziegelwies
Im Walderlebniszentrum Füssen-Ziegelwies können sich Jung und Alt beim Laufen über die Planken des bis zu 21 Meter hohen Baumkronenwegs bewegen und anschließend auf dem Bergwald- oder dem Aupfad Wissenswertes über den Lebensraum Wald und der Wasserwelt des hier vorbei fließenden Lechs kennen lernen.

Rein in die Welt der Fantasy

Man muss sich nicht Ludwigs Klimabewusstsein oder seine soziale wie religionstolerante Ader zum Vorbild nehmen, um sich als junger Mensch mit dem leidenschaftlichen Schlossbauherrn zu identifizieren. Dazu genügt schon ein etwas genaueres Hinsehen bei einem Besuch im Schloss Hohenschwangau, das Vater Kronprinz Maximilian 1837 im neugotischen Stil umbauen ließ und in dem die Kinder Ludwig und Otto größtenteils Kindheit und Jugend verbrachten. Im nach wie vor heimelig wirkenden Schloss fallen vor allem die zahlreichen Wandbilder auf. Oft taucht hier der Ritter Dietrich von Bern, eine der bekanntesten Heldenfiguren des deutschen Hoch- und Spätmittelalters auf. Ein "Captain America" des 19. Jahrhunderts, wie die Leiterin einer Familienführung kürzlich treffend feststellte.

Der Schwan hat als namensgebendes Wesen der Schlösser Hohenschwangau und Neuschwanstein sowie der ganzen Region eine mittlerweile rund 1000-jährige Geschichte, blickt man auf die erste urkundliche Erwähnung der Doppelburg Vorder- und Hinterschwangau als "Castrum Swangowe" im Jahre 1090. Das Tier zieht sich wie ein roter Faden auch durch die Bilderwelt in den Schlössern. Nach "Schwanenritter" Lohengrin ließ er später einen Raum auf Neuschwanstein einrichten, in einem Schwanenboot ruderte er nächtlich über den nahen Alpsee oder ließ sich durch die illuminierte Grotte von Schloss Linderhof ziehen. Welcher Teenager wäre nicht begeistert, hätte er die Möglichkeiten, seine Träume so auszuleben? Und dann noch ein Schloss sein Eigen nennen, in dem man jeden Raum nach seinen Superhelden oder den Lieblingsszenen aus Filmen (damals Opern) gestalten kann?

Magnus Peresson ist immer wieder traurig, wenn Ludwig II. wegen seiner Ausflüge in die Fantasie, die aber oft von Haltung geprägt waren und denen Taten folgten, als Sonderling angesehen wird. Es sei längst überfällig, ein anderes Bild vom Bayernkönig zu zeichnen. "Er war nicht der Verrückte, als der er gerne hingestellt wird."