In den USA wurde das Recht auf Abtreibung abgeschafft. Ist das aus der Sicht der Schwangerschaftskonflikt-Beratung der Diakonie eine positive Entwicklung?
Sabine Lindau: Generell sehen wir das mit großer Skepsis und Sorge. Das ist eine Entwicklung, die wir im Übrigen ja nicht nur in Amerika, sondern auch in manchen osteuropäischen Ländern sehen, und die letztlich ein Rückschritt in die Sozialpolitik der 70er, 60er oder 50er Jahre ist. Das radikale Verbieten von Abtreibungen treibt die betroffenen Frauen in eine zusätzliche existenzielle Notlage, in der sie sich ja ohnehin schon befinden, wenn sie in einer Situation sind, wo sie über eine Abtreibung nachdenken.
"Was sich niemand wünschen kann, ist der Weg in die Illegalität – bis hin zu dem, was man früher unter "Engelmachern" kannte."
Sie glauben also nicht, dass Verbote dazu beitragen, die Zahl von Abtreibungen zu reduzieren?
Lindau: Nein. Was in den Vereinigten Staaten passieren wird, ist, dass die Abtreibung dann woanders vorgenommen wird. Es ist zu befürchten, dass ein Abtreibungs-Tourismus entsteht. Und die Alternative, die sich niemand wünschen kann, ist der Weg in die Illegalität – bis hin zu dem, was man früher in den 60ern auch unter "Engelmachern" kannte. Was es sicherlich auch geben wird und auch schon gab, ist, dass betroffene Frauen versuchen, den Abbruch selbst vorzunehmen, mit allen Risiken für die Gesundheit, für Leib und Leben, die damit verbunden sind.
Das Problem wird also verlagert?
Lindau: Es wird verlagert, und die Menschen, die sich um Frauen in solchen Situationen kümmern, geraten zusätzlich unter Druck. Und wir wissen ja, dass die es in Amerika zum Teil ohnehin schon sehr schwer haben. Insofern ist es alles in allem sicherlich keine gute Entwicklung.
"Keine der betroffenen Frauen macht sich die Entscheidung auch nur ansatzweise leicht."
Wie bewerten Sie, dass oft ein Bild von abtreibungswilligen Frauen gezeichnet wird, diese würden das aus Gründen der Selbstoptimierung oder für ihre Karriere tun?
Lindau: Dahinter steht ein sehr fragwürdiges Frauenbild: Aus unserer Beratungspraxis kann ich wirklich sagen, dass sich niemand, der zu uns kommt, eine derartige Entscheidung leicht macht oder en passant mal kurzerhand einen Abbruch vornimmt. Das ist eine der existenziellsten Entscheidungen, die ein Mensch überhaupt treffen kann. Und keine der betroffenen Frauen macht sich die auch nur ansatzweise leicht. Das zu unterstellen oder das zu vermuten, wird den Frauen nicht gerecht und ist bar jeglicher Erfahrung.
Dennoch gibt es natürlich schon auch einen gewissen Druck von Seiten des Arbeitsmarkts auf schwangere Frauen, oder?
Lindau: Natürlich kennen wir die Debatten nach dem Motto: "Was bedeutet es für meine Karriere, für mein persönliches Fortkommen, wenn ich jetzt plötzlich schwanger werde?" Und ich bin mir sicher, dass da viele Menschen sehr intensiv darüber nachdenken – auch über die Frage, welche finanzielle Belastung ein Kind bedeuten kann. Das will ich gar nicht in Abrede stellen. Aber dann diese Entscheidung leichten Herzens zu treffen – das macht niemand. Und es würde auch im Übrigen unserem Beratungsauftrag widersprechen, weil der Schutz des ungeborenen Lebens auch bei der Schwangerschaftskonflikt-Beratung der Diakonie ganz oben steht. Es ist ja auch der gesetzliche Auftrag. Und so arbeiten wir auch. Allerdings natürlich mit allem Respekt vor der individuellen Entscheidung der betroffenen Frau. Auch wenn es dann vielleicht manchmal schwerfällt, die zu akzeptieren.
"Es kann doch nicht dem Schutz des ungeborenen Lebens dienen, dass man versucht, Informationen zu verhindern."
Wie bewerten Sie denn die Lage hier in Deutschland? Der Paragraph 219a wurde ja kürzlich gestrichen.
Lindau: Was mich sehr ärgert, ist die Bezeichnung und das Framing, das da stattgefunden hat, wenn es hieß: Wir schaffen das "Werbe"-verbot ab. Es geht hier nicht um Werbung, sondern es geht hier um die Informationsmöglichkeiten von Ärzten, die Abbrüche vornehmen. Es kann doch nicht dem Schutz des ungeborenen Lebens dienen, dass man versucht, diese Informationen zu verhindern. Wie diese informieren, ist im Übrigen auch gesetzlich sehr klar geregelt. Hinter 219a stand ebenfalls die Vorstellung: "Da wird jemand ungewollt schwanger, dann lässt er es halt wegmachen." Und das ist durch unsere Beratungspraxis nicht gedeckt.
Und wenn eine Frau in der Beratung – die wir nach wie vor als wichtig erachten - zu dem Schluss kommt, dass sie einen Abbruch vornehmen möchte, ist es aus unserer Sicht existenziell, dass sie erfahren kann, und zwar ohne große Umwege und ohne große Geheimnistuerei, wo sie diesen Abbruch vornehmen kann und auch, was dort im Einzelnen geschieht. Die Adressen der Ärzte müssen übrigens auch unsere Beratungsstellen bislang mühsam recherchieren, weil sie diese zum Teil auch nicht bekommen. Insofern ist die Abschaffung dieses Informationsverbotes aus unserer Sicht durchaus sinnvoll, immer unter der Prämisse unseres Beratungsansatzes wohlgemerkt.
"Dass Alleinerziehende besonders häufig von Armut betroffen sind, kommt ja nicht von ungefähr."
Wenn Verbote nicht helfen, was müsste sich denn gesellschaftlich verändern, damit weniger Frauen sich damit beschäftigen müssten, Schwangerschaften abzubrechen?
Lindau: Das sagt Ihnen jede Statistik, das sagt Ihnen jeder Armutsbericht. Natürlich brauchen wir weiterhin bessere oder noch bessere Unterstützungsangebote für Familien. Wir brauchen bessere Betreuungsangebote, gerade auch für Alleinerziehende. Denn dass Alleinerziehende besonders häufig von Armut betroffen sind, kommt ja nicht von ungefähr, sondern auch daher, dass es teilweise dann nicht möglich ist, adäquate Arbeit zu finden oder anzunehmen, weil die Betreuungsangebote nicht ausreichend sind.
Außerdem benötigen wir weiterhin auch gut bezahlte Teilzeitsjobs, Arbeitgeber, die auf die Bedürfnisse von alleinerziehenden Frauen Rücksicht nehmen und v.a. muss die Möglichkeit der Teilzeitausbildung endlich auf ein gutes Gleis gesetzt werden. Das sind so Punkte, die da ganz bestimmt eine Rolle spielen: Welche Unterstützungssysteme oder besonderen Angebote können wir etablieren, damit Frauen trotzdem Ja sagen können zu ihrem Kind, auch wenn es zunächst einmal ungewollt ist?